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Eine Frau übergibt am Breitscheidplatz am Mahnmal nach einer Abendandacht ein Kerzenlicht.

© Carsten Koall/dpa

Nach Terroranschlag am Breitscheidplatz 2016: Ein Forschungsprojekt analysiert die Arbeit von Notfallseelsorgern

Seit zwei Jahren forschen Wissenschaftler zur psychosozialen Notfallversorgung nach dem Attentat am Breitscheidplatz. Erste Ergebnisse liegen vor.

Als die ersten Notfallseelsorger am Breitscheidplatz eintrafen, wurden sie von der Polizei erst mal wieder weggeschickt. Das würde heute so nicht mehr passieren, sagt Vincenz Leuschner, Kriminologe und Soziologe an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht. „Die Polizei hat sich da neu aufgestellt.“ Die psychosoziale Betreuung von Opfern und Angehörigen schon kurz nach einem schrecklichen Ereignis wird inzwischen als wichtig anerkannt. Leuschner arbeitet zusammen mit Kollegen von der Alice-Salomon-Hochschule seit zwei Jahren an einem Forschungsprojekt zur Analyse der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) nach dem Attentat im Dezember 2016.

In Gesprächen mit den Ersthelfern aus acht verschiedenen Organisationen versuchen die Wissenschaftler, Schwachstellen in der Kette der Betreuungsangebote aufzudecken und Verbesserungsvorschläge zu machen. So fiel beispielsweise auf, dass „spontane Ersthelfer“, also Besucher des Weihnachtsmarktes, die sich bis zum Eintreffen der professionellen Rettungskräfte um Verletzte kümmerten, nach ihrem Einsatz nicht mehr auffindbar waren.

Niemand hatte ihre Adressen oder Telefonnummern aufgeschrieben, um sich später nach ihnen erkundigen zu können. Möglicherweise hätten auch sie eine professionelle Betreuung gebraucht, um mit dem Erlebten umgehen zu können. Inzwischen gibt es Kärtchen mit Adressen und Anlaufstellen, die an spontane Helfer verteilt werden sollen.

Grundsätzlich habe das System der ehrenamtlichen Notfallseelsorger am Breitscheidplatz durchaus funktioniert, sagt Leuschner. So hätten schnell ausreichend Helfer aktiviert werden können, um sich an zugewiesenen Betreuungsplätzen um Zeugen und Angehörige kümmern zu können. Das empfohlene Betreuungsverhältnis sei übererfüllt worden.

Dennoch sagt Justus Münster, Leiter der Notfallseelsorge/Krisenintervention Berlin: „Wir haben festgestellt, dass es nach einem größeren Schadensereignis sehr viel mehr Betreuungsmöglichkeiten für Menschen geben sollte. Diese identifizieren wir gerade.“ Eine Betreuungslücke haben die Forscher in Krankenhäusern identifiziert. Dort ist für Angehörige und ihre Psyche oft kein Platz.

Betreuung abseits der „Blaulichtlogik"

Es fehlte auch an den Tagen nach dem Attentat an Orten, an denen Freunde und Angehörige trauern konnten und Gesprächsangebote bekamen. Die Notfallseelsorger folgten noch zu sehr der „Blaulichtlogik“, wie Leuschner es nennt. Sie konzentrierten sich auf Betreuungsorte, die ihnen von Polizei oder Feuerwehr zugewiesen wurden, statt selber geeignete Räume zu suchen, etwa nahegelegene Kirchengemeinden oder bezirkliche Beratungsstellen. Leuschner nennt als Beispiel den SUV-Unfall mit vier Toten auf der Invalidenstraße. Nach dem Unfall wurde die St. Elisabeth-Kirche in der Nähe des Unfallorts geöffnet, damit jeder dort abseits der Alltagshektik der Opfer gedenken konnte.

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Leuschner möchte aber nicht nur die individuellen Folgen eines Anschlags in den Blick nehmen. Es gehe auch um die kollektive Psyche einer Gesellschaft, deren Destabilisierung ja gerade das Ziel eines solchen Anschlags sei. „Um die Frage, wie stark der Terrorakt sein Ziel erreicht hat, kümmert sich keiner.“ Ein Netzwerk von Institutionen könnte einer solchen Destabilisierung entgegenwirken. Auch völlig Unbeteiligte nehmen über die Medien solche Ereignisse wahr und können Ängste entwickeln. Als psychischen Selbstschutz empfiehlt Olaf Neumann von der Alice-Salomon-Hochschule, ein paar Tage auf Fernsehen und andere Medien zu verzichten. Als Alternative sollte es Orte geben, an denen man über seine Gefühle nach solchen Ereignissen reden kann.

Das Forschungsprojekt läuft noch bis zum April 2020. Es wird vom Institut für angewandte Forschung (IFAF) Berlin gefördert. Als Ergebnis planen die beteiligten Wissenschaftler keinen Forderungskatalog an die Politik. Die Erkenntnisse sollen ganz konkret in die Verbesserung von Fortbildungen, ins Coaching von Helfern und in die Verbesserung von Netzwerkstrukturen einfließen. Thomas Loy

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