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Kerzen sind am Tatort in der Seitenstettengasse in der Wiener Innenstadt zu sehen.

© Georg Hochmuth/APA/dpa

Nach Paris, Nizza, Dresden, Wien: Müssen sich Berliner Muslime vom Islamismus distanzieren?

Nach dem Anschlag auf Wien verurteilen muslimische Gemeinden in Berlin den Terror. Sind es nur „Lippenbekenntnisse“? Eine Debatte.

Aiman Mazyek steht auf einem roten Podium vor der österreichischen Botschaft in Berlin-Mitte. Zu seinen Füßen leuchten Kerzen, drumherum wurden weiße Rosen in einem Kreis abgelegt. Mazyek ist Vorsitzender des Zentralrats der Muslime und hat nach dem terroristischen Anschlag in Wien am Montagabend zu einem interreligiösen Gebet geladen. „Wer Österreich liebt, spaltet es nicht, wer Frankreich liebt, mordet nicht, wer Deutschland liebt, tötet nicht“, sagt er.

„Wir als Muslime stehen mit unseren europäischen Nachbarn kompromisslos für die körperliche Unversehrtheit aller.“ Mazyek verurteilte die Anschläge von Wien, Kabul, Dresden, Nizza und Paris.

Auch der katholische Erzbischof Heiner Koch, der evangelische Bischof Christian Stäblein, Rabbiner Andreas Nachama und Imam Mohamed Taha Sabri der Dar-as-Salam-Moschee in Neukölln waren am Freitag gekommen, um der Opfer des Anschlags zu gedenken.

Sobald Städtenamen zum Symbol für Gewalt von Islamisten werden, wird von Muslimen in Deutschland gefordert, sich von „den Gräueltaten“ der Terroristen zu distanzieren.

Die Diskussion um eine Distanzierung ist ein eigenes Kapitel für sich im Ringen um die Stellung muslimischen Lebens in Deutschland. Macht sie Sinn? Ist sie diskriminierend? Ist eine Distanzierung nur ein Lippenbekenntnis?

Aiman Mazyek beim interreligiösen Gebet vor der österreichischen Botschaft in Gedenken der Terroropfer von Wien.
Aiman Mazyek beim interreligiösen Gebet vor der österreichischen Botschaft in Gedenken der Terroropfer von Wien.

© Omer Messinger / AFP

So vielfältig und ausdifferenziert die muslimischen Gemeinschaften in Deutschland sind, so unterschiedlich fallen auch die Meinungen darüber aus, wie Verbände und Gemeinden mit islamistischem Terror in Europa umgehen sollten.

Wie Kultursenator Klaus Lederer (Linke) in einer Broschüre über islamisches Gemeindeleben in Berlin feststellt: „Zweierlei wird deutlich: dass es den einen Islam, wie ihn manche beschreiben, nicht gibt. Aber auch, wie sehr der Islam zu Berlin gehört, wie er das gesellschaftliche Leben bestimmt, wie er Menschen in dieser Stadt Halt und Heimat gibt − und wie er unstrittig auch so manchen Konflikt mit sich bringt.“

Distanzierung dringend nötig oder pauschale Verurteilung?

Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, sieht in der „Heterogenität der muslimischen Infrastruktur in Deutschland Segen und Fluch zugleich“. Werden Verurteilungen von Islamismus nur nicht laut genug gehört, weil Muslimen das gemeinsame institutionelle Sprachrohr fehlt? In der Distanzierungsfrage erkenne Mazyek bei allen Gemeinden grundsätzlich dieselbe Haltung.

Mazyek hat die Debatte schon oft geführt. „Ich kann mich nicht distanzieren, wenn ich keine Nähe habe“, sagt er. Und doch wolle er es sich nicht zu einfach machen: „Wir als Muslime müssen aber religiös begründeten Extremismus und Terror dennoch lautstark verurteilen.“

Evangelischer Bischof Christian Stäblein, der katholische Erzbischof Heiner Koch und Imam Mohamed Taha Sabri bei der Gedenkveranstaltung des Zentralrats der Muslime.
Evangelischer Bischof Christian Stäblein, der katholische Erzbischof Heiner Koch und Imam Mohamed Taha Sabri bei der Gedenkveranstaltung des Zentralrats der Muslime.

© REUTERS/Axel Schmidt

Zum einen sei der Diskurs in einer Schieflage, es werde nicht eindeutig zwischen Islam und Extremismus getrennt. Andererseits hätten Muslime eine besondere Verantwortung beim Thema Islamismus: „Wir als Gemeinden haben, wahrscheinlich als Einzige noch ein gewissen Zugang zu Familien der Extremisten, die sich von den Moscheen und Gemeinden abkehren“, sagt Mazyek.

Auch Murat Gümüş sieht den Begriff der „Distanzierung“ problematisch. Er ist Generalsekretär des Islamrats. Darin sind mehrere islamische Dachverbände zusammengeschlossen, unter anderem auch die Islamische Föderation Berlin, der 17 Moscheegemeinden in Berlin angehören.

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„Die Forderung nach einer Distanzierung würde voraussetzen, dass bereits eine Nähe muslimischer Gemeinden zum Extremismus, der den Islam missbraucht, da ist. Aber verurteilen tun wir ihn entschieden“, sagt er. Den Begriff Islamismus benutzt er nicht. Er ist der Auffassung, dass die Verwendung des Begriffs kontraproduktiv sei und pauschalisierende Schlüsse auf den Islam begünstige.

Seiner Meinung nach sei eine Positionierung viel wichtiger: „Von den Organisationen, mit denen ich täglich zu tun habe, positionieren sich alle gegen den Terror, der den Islam missbraucht. Viele zeigen sich entrüstet. Ich kenne keine muslimische Organisation, die sagt, dass sie das gut fänden“, sagt Gümüş.

Umgang mit Radikalisierungstendenzen im Alltag

Doch was, wenn Verbände und Organisationen islamistischen Terror verurteilen, einzelne Muslime aber nicht? Wenn Lehrerverbände in Berlin sich entrüstet zeigen, dass manche Schüler die Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty gutheißen, weil er „den Propheten beleidigt“ habe?

Dazu sagt Gümüş: „Man muss sich genau angucken, ob pubertierende Kinder provozieren wollen. Hier ist pädagogisches Fingerspitzengefühl gefragt.“ In seiner täglichen Arbeit, die aktuell etwa eine Vorbereitung zu einer Fachtagung zum Thema Radikalisierung in 2021 umfasst, begegnen ihm solche Aussagen nicht, sagt er.

Eine Antwort darauf, wie mit Aussagen von Schülern, die islamistischen Terror verherrlichen, umzugehen ist, hat hingegen Derviş Hızarcı. Er war bis vor kurzem Antidiskriminierungsbeauftragter des Landes Berlin. Aktuell ist er Programmdirektor der Alfred-Landecker-Stiftung mit den Schwerpunkten Minderheitenschutz, Demokratieförderung und Antisemitismusbekämpfung und außerdem Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft religionsbegründeter Extremismus.

Dervis Hizarci, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft religionsbegründeter Extremismus
Dervis Hizarci, Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft religionsbegründeter Extremismus

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Er ist selbst Muslim und von Kindheit an regelmäßiger Besucher von Moscheen, wie er selbst sagt. „Ich war in der Woche vom 11. September 2001 in der Moschee, ich war in der Moschee, als Charlie Hebdo war, und jetzt war ich auch in der Moschee. Ich habe noch nie erlebt, dass Terrorakte ignoriert wurden, oder gar bejubelt“, sagt Hızarcı.

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Pädagogisch gäbe es eindeutig gute Umgänge mit radikalen Äußerungen von Schülern. Man müsse Fragen stellen wie: „Hat Paty den Propheten beleidigt? Was ist Prophetenbeleidigung? Würden wir erlauben, dass die, die Mohammed-Karikaturen nicht sehen wollen, aus dem Unterricht gehen? Ja? Das hat Paty auch gemacht.“

Und trotzdem wurde er brutal ermordet und in diesem Widerspruch müssten sich die Schüler ertappen, sagt Hızarcı.

Eine Distanzierung helfe hingegen niemandem, Radikalisierungsprozesse würden dadurch nicht bekämpft werden, findet Hizarci. Mit Distanzierungsforderungen erhebt sich die eine Gruppe über die andere und definiert sie als anders, als minderwertig, kritisiert Hızarcı. Durch diese Selbstvergewisserung findet auch eine Art Entlastung statt. „Die anderen sind schuld.“ Auch wenn man das nicht wahr haben wolle, habe das Ganze rassistische Züge.

Auslandsfinanzierte Imame – das eigentliche Problem?

Ganz anders positioniert sich in dieser Debatte Seyran Ateş, Mitbegründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, die für einen liberalen Islam steht. Sie beklagt, wie sie selbst sagt, seit den Anschlägen vom 11. September, dass sich muslimische Gemeinden nicht genug vom politischen Islam distanzieren würden.

„Dieses Argument, man würde durch eine Distanzierung Nähe zugeben, ist nicht nachvollziehbar. Das ist ein Scheinargument“, sagt Ateş. Grund dafür sei, dass viele Gemeinden und Verbände – namentlich darunter die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DİTİB), der Zentralrat der Muslime, der Islamrat und die Gemeinde Millî Görüş, in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie eine Nähe zu gewaltbereiten Islamisten haben.

Seyran Ates, Gründerin der Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin.
Seyran Ates, Gründerin der Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin.

© Jutrczenka/dpa

DİTİB ist die größte türkisch-islamische Organisation in Deutschland, den Berliner Dachverband gibt es seit 1982. Kritisiert wird an DİTİB, dass ihre Imame in der Türkei ausgebildet und als Angestellte des türkischen Staates entsandt werden. Skeptiker bezeichnen sie auch als den

„verlängerter Arm“ der türkischen Religionsbehörde Diyanet

Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, sieht in der Auslandsfinanzierung deutscher Islamgemeinden eine integrationspolitische Hürde – auch, wenn juristisch nichts gegen sie einzuwenden ist. „Die Gefahr der Vermischung von Nationalismus und Religion müssen wir qua Islam stets entschieden ablehnen." Ziel sollte es sein, „dass alle in Deutschland friedvoll zusammenarbeiten.“ Deshalb würde sich Mazyek wünschen, es gäbe in Deutschland mehr Alternativen, Imame hierzulande auszubilden.

„Bei muslimischen Gemeinden steht die Nationalität im Vordergrund“

Dastan Jasim, Politikwissenschaftlerin, sieht die Nähe vieler Islamgemeinden zur Türkei ähnlich wie Seyran Ateş als Problem. Sie hat jüngst einen offenen Brief „Gegen jeden Islamismus, Antisemitismus und Faschismus“ unterschrieben. „Die Gemeinden vertreten eine türkische Staatsraison und bekommen Vorgaben über Inhalte bei Predigten und Framing von Themen“, sagt Jasim.

Sie kritisiert, dass in vielen muslimischen Gemeinden in Deutschland die Nationalität im Vordergrund stehe. „Die Menschen finden erst auf der Basis von Nationalität Repräsentation, dann im zweiten Schritt religiöse Repräsentation.“ Moderne, säkulare und kurdische Musliminnen und Muslime fänden so keine Vertretung, weil die meisten Gemeinden türkisch oder arabisch und dezidiert politisch gelenkt seien.

Muslime beten 2017 in der Sehitlik Moschee in Berlin, die zu DITIB gehört.
Muslime beten 2017 in der Sehitlik Moschee in Berlin, die zu DITIB gehört.

© REUTERS/Axel Schmidt

„Es ist egal, ob man sich auf dem Papier distanziert. Phrasen kann man sich sparen, wenn man sich nicht von ausländischer Einflussnahme verabschiedet“, sagt Jasim. Gleichzeitig fordert sie, Deutschland müsse seine wirtschaftliche und militärische Kooperation mit Staaten wie der Türkei und Saudi-Arabien fundamental ändern, um Länder, die Islamismus fördern, nicht zu unterstützen.

Es gäbe Defizite bei den islamischen Verbänden, bemängelt auch Hızarcı. Doch um diesen Zustand zu verändern, müsse man mit ihnen jetzt ins Gespräch kommen. „Wir müssen Verbänden wie DİTİB, Millî Görüş und VIKZ Alternativen hier anbieten, sodass sie sich von ihren problematischen Heimatbezügen auch emanzipieren können.“ So könne das gelingen, was mit destruktiven Distanzierungsforderungen eigentlich erreicht werden wolle.

Muslimische Gemeinden als Parallelgesellschaften?

Die islamische Gemeinschaft Millî Görüş wird vom Berliner Verfassungsschutz beobachtet, seit 2014 jedoch nur in Teilen. „Neben den als ‚Imperialisten‘ bezeichneten westlichen Staaten ist aus ‚Millî Görüş‘- Sicht eine angebliche ‚zionistische Verschwörung‘ schuld an politischen Missständen“, heißt es im Berliner Verfassungsschutzbericht von 2019.

Auch Seyran Ateş sieht das Wirken der Gemeinschaft problematisch. „Ich behaupte, dass es junge Männer gibt, die in diesen Kreisen radikalisiert werden“, sagt sie. „Junge Männer, die unter anderem in Neukölln in die Moschee gehen, rufen ‚Allahu Akbar‘ am Hermannplatz.“ Vergangenen Freitag demonstrierten muslimische Männer in Neukölln für den türkischen Staatspräsidenten Erdogan und gegen den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.

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Ateş fragt sich, warum Berliner Islamverbände zu solchen Kundgebungen schweigen. „Distanzierungen bleiben Lippenbekenntnisse, weil die Arbeit dieser Verbände Deradikalisierungsprozesse nicht begünstigt hat. Im Gegenteil: Sie fördern Parallelgesellschaften“, sagt sie. Und dennoch erkenne sie an, dass Verbände wie der Zentralrat der Muslime stärker öffentlich aufträten, wenn Terroranschläge verübt werden.

Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, hätte nach dem Freitagsgebet gerne zu dem interreligiösen Gebet vor der österreichischen Botschaft aufgerufen. Doch aus epidemiologischen Gründen verzichtete er darauf. Er findet, dass die Empörung über „bestialische Morde“ bei Muslimen höher sein muss, als über eine Karikatur. „Leider gibt es neben der Mehrheit der Muslime und Rechtsgelehrten einige wenige, auch prominente Muslime weltweit, die sich aus politisch-ideologischen Motivationen heraus dazu verhalten.“

Und gerade deswegen habe er in den letzten zehn Jahren auf Aufklärung, Prävention und die Schulung von Imamen gesetzt. Mazyek hofft, diejenigen zu erreichen, die „auf der Kippe“ stehen. „Vielleicht erreichen wir nicht den vollends radikalisierten Terroristen, aber ihr Umfeld - Brüder, Schwestern, Schwager.“

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