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Mitgefühl. Franzosen Unter den Linden nach dem Anschlag in Nizza.

© dpa

Nach dem Anschlag in Nizza: Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule: Wie Betroffenen geholfen wird

Psychologen und Seelsorger kümmern sich nach dem Anschlag von Nizza um Schüler. Eine Gymnasiastin schildert ihre dramatischen Erlebnisse vor Ort.

Es kamen die Schüler, die in Nizza waren, es kamen ihre Eltern, es kamen Lehrer, und es kamen Schüler, die nicht in Nizza waren, aber wie die Frankreich-Fahrer in der Oberstufe sind. Es kamen Menschen, die das Bedürfnis nach Gesprächen, nach Hilfe, nach Trauerarbeit haben. Sie alle kamen am Samstagnachmittag in die Charlottenburger Paula-Fürst-Gemeinschaftsschule. Für die Gespräche, für die Trauerarbeit standen sechs Schulpsychologen und zwei Notfallseelsorger bereit. Es war ein Angebot für Betroffene an der Schule und ihre Angehörigen. Es ging darum, die Schreckenserlebnisse von Nizza zu verarbeiten. Zwei Schülerinnen der Oberstufe und eine Deutschkurs-Leiterin der Schule gehören zu den 84 Toten, die der Anschlag auf der Promenade der Hafenstadt am Donnerstag gefordert hatte.

Seelsorger flogen nach Nizza

Diese Gespräche in der Schule sind aber nur ein Teil der umfassenden Betreuung und Seelsorge für die Betroffenen. Rund 200 Schüler und ihre Lehrer aus zehn Berliner Schulen waren zum Zeitpunkt des Anschlags in Nizza. „Schon am Freitag haben sich Psychologen und Notfallseelsorger den ganzen Tag um die Schüler, Eltern und Lehrer gekümmert“, sagt Beate Stoffers, Sprecherin der Senats-Bildungsverwaltung. Entweder geschah dies nach der Rückkehr der Gruppen nach Berlin oder vor Ort. Seelsorger waren nach Nizza geflogen und haben Schüler nach Hause begleitet. Von den zehn Schulen hätten nur vier „keinen Gesprächsbedarf angekündigt“, sagte Beate Stoffers.

Die Betreuung geht auch in der kommenden Woche weiter. Psychologen werden in Schulen jene Schüler betreuen, die Hilfe benötigen. Und auch der Ablauf der letzten Schultage ist klar strukturiert. „Da ist zum Beispiel festgelegt, wie die Zeugnisausgabe ablaufen wird“, sagt Stoffers. Für die Paula-Fürst-Schule gibt es einen gesonderten Ablauf. „Da wird mit den Schülerinnen und Schülern besprochen: Wollt ihr einen Trauerraum? Wollt ihr ein Kondolenzbuch?“, sagt Stoffers. „Die müssen mitgestalten können.“

Am Montag um 13 Uhr findet zudem im Berliner Dom ein Trauergedenken statt, mit beiden Kirchen und unter Einbeziehung der muslimischen Gemeinde. Weihbischof Matthias Heinrich und Propst Christian Stäblein werden anwesend sein.

Schüler und Lehrer, die in Nizza waren, sind nach der Landung in Tegel von den anderen Passagieren abgeschirmt worden. Auf dem Flughafen standen Psychologen und Seelsorger bereit. „Die Schulpsychologen stehen den Betroffenen rund um die Uhr zur Verfügung“, sagte auch Schul- und Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD).

Erwachsene müssen mit Kindern reden

„Man muss den Betroffenen die Möglichkeit geben, die Erfahrungen zu verarbeiten, und mit ihnen reden, das gilt für Lehrer wie für Schüler“, sagt der langjährige Schulpsychologe Klaus Seifried. Man müsse Ruhe in die Situation bringen und dürfe nichts dramatisieren. Bedeutsam sei aber auch die gemeinsame Trauer, und es helfe, „Rituale zu schaffen, zum Beispiel eine Schweigeminute einzulegen“. Und Lehrern, die traumatisiert seien, müsse man genügend Möglichkeiten geben, zu sprechen, und sie stärken, damit sie Ruhe ausstrahlen könnten.

Der Schock nach dem Anschlag von Nizza betrifft ja alle Schüler, nicht bloß jene, die vor Ort waren. Und da kommen Erwachsene ins Spiel. „Die müssen den Kindern sagen: Wir geben euch Sicherheit, wir leben in einem friedlichen Land, Deutschland ist nicht zu vergleichen etwa mit Syrien oder dem Irak“, sagt Seifried.

Kristina Gellrich ist eine dieser Erwachsenen, die Schreckensbilder übersetzen müssen, gleich in doppelter Funktion. Einerseits ist sie Deutsch- und Englischlehrerin an der Sachsenwald-Grundschule in Steglitz, andererseits Elternsprecherin in der Paul-Klee-Grundschule in Tempelhof, dort lernt ihr Sohn. „Man muss die Ängste der Kinder wahrnehmen und sie beruhigen, man muss viel mit ihnen reden, altersgerecht natürlich.“ Nach den Anschlägen von Paris im November 2015, nach den 130 Toten, hat sie das an ihrer Schule so gemacht. Sie hat die Zusammenhänge erklärt, sie hat Informationen transportiert, sie hat durch Wissen beruhigt. „Wenn sie keine Hintergründe kennen, reagieren Kinder hysterisch“, sagt die Lehrerin Gellrich. Also hat sie informiert, eine ganze Woche lang.

Die Mutter und Elternsprecherin Gellrich wünscht sich Ähnliches für die Schule ihres Kindes, zumindest bis zu den Ferien. Der Schock wirkt ja nach. Und deshalb hat sie ihr eigenes Schreckensbild vor Augen. Kinder, die im Fernseher Szenen von Tod und Panik sehen, allein, ohne Erklärung. Es gibt genügend Kinder, die solche Bilder allein verarbeiten sollen und daran scheitern.

Eine 16-Jährige vom Albert-Einstein-Gymnasium hat ganz anderes erlebt: Zuwendung, Hilfe, einfühlsame Gespräche. Sie war in Nizza, mit 19 Mitschülern des 2. Semesters der Oberstufe. Sie schildert dem Tagesspiegel ihre Erlebnisse. Und sie sagt vor allem: „Ich möchte mich bei allen Beteiligten bedanken. Wir wurden super unterstützt, sowohl in Nizza als auch nach unserer Rückkehr. Und unsere Lehrerinnen, die in Nizza dabei waren, sind sehr ruhig geblieben und haben nach dem Anschlag alles hervorragend organisiert.“

Und trotzdem, sie ist noch immer „schockiert“, auch zwei Tage nach dem Anschlag. Reden, viel reden, das ist ihr Versuch, das Drama zu verarbeiten. „Eigentlich rede ich die ganze Zeit.“

Den Anschlag selber, die Amokfahrt eines 31-Jährigen mit einem Lkw durch die Menschenmenge, hat sie gar nicht mitbekommen. Sie stand auf der Promenade vor einer Bühne, auf der Rockmusik aus dem Boxen dröhnte. „Plötzlich bemerkte ich, dass links von mir Leute in Panik gerieten“, sagte sie. „Erst dachte ich, jemand sei umgekippt, dann hörte ich Schüsse.“ Sie ließ sich auf den Boden fallen, aber nur Sekunden später schoss ihr durch den Kopf: Keine gute Idee. Sie stand auf und verschwand unter der Bühne. Auf dem Boden liegend, hörte sie gellende Schreie: „Rennt zum Strand.“

Die Schülerin schwamm durchs Meer in Sicherheit

Die 16-Jährige kroch hektisch unter der Bühne hervor und lief Richtung Strand. Allerdings stand sie dann erst mal vor einer Mauer. Die Promenade liegt erheblich höher als der Strand, sie musste in den Sand springen. Und das war nicht bloß ein Hüpfer; mehrere Leute brachen sich ein Bein, als sie sich panikartig in die Tiefe stürzten. „Ich habe gedacht: Entweder sterbe ich beim Sprung oder hier oben“, sagte die 16-Jährige. Auf der Promenade wollte sie nicht sterben, also sprang sie. Sie landete unverletzt und rannte ins Meer. Auf dem Wasser, ein paar Meter vom Strand entfernt, lag ein Boot der Feuerwehr. Sie schwamm zu den Helfern und war damit in Sicherheit. Neben ihr im Boot hockten 15 weitere verstörte Menschen. Und dann gab jemand am Steuer Gas. Der Motor heulte auf, das Boot jagte davon.

Aber noch immer wusste die Schülerin nichts von dem Lkw, für sie hing die Panik ausschließlich mit den Schüssen zusammen. Das Boot legte im Hafen an, dort gab es Duschen und Betten. „Wir wurden super versorgt“, sagt sie.

Eine einzige Welle des Glücksgefühls

Irgendwann später war auch das ganze zweite Semester wieder zusammen. Am Freitag um 23 Uhr landete die Schülergruppe dann in Tegel. Dort warteten Psychologen, Seelsorger und die Schulleitung des Albert-Einstein-Gymnasiums. Vor allem aber schlossen ihre Eltern die 16-Jährige in die Arme. Es war der Moment, in dem alle Glücksgefühle sie in einer einzigen Welle überspülten. „Da habe ich erst realisiert, dass ich noch lebe.“

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