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Gefahr aus dem Netz. Bei den neuen Vorwürfen gegen den Ex-Studenten geht die Staatsanwaltschaft von Organisierter Cyberkriminalität aus.

© Silas Stein /dpa

Exklusiv

Mutmaßlich über 200 Taten: Wie ein Jurastudent versuchte, vorbestraft in den juristischen Vorbereitungsdienst zu kommen

Als Vorbestrafter in den juristischen Vorbereitungsdienst? Ein Jurastudent hat es versucht. Ein Gericht gab ihm Recht. Inzwischen steht er erneut unter Anklage.

Der Lebenslauf des jungen Bewerbers hatte es in sich: Eine Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten wegen Betrugs in 144 Fällen, Haft in Berlin, offener Vollzug, dann auf Bewährung frei. Kurz darauf die nächste Verurteilung für Taten, die wenige Jahre zurück lagen, diesmal wegen Urkundenfälschung in 170 Fällen, davon zwei in Tateinheit mit Betrug. Gesamtstrafe: vier Jahre unter Einbeziehung des früheren Urteils.

Und mit so einer kriminellen Vergangenheit wollte der Jurastudent im Sommer 2018 in den juristischen Vorbereitungsdienst in Berlin? Bei erfolgreichem Abschluss dieser zwei Jahre hätte er nicht nur das zweite Staatsexamen abgelegt, sondern besäße auch die Befähigung zum Richterdienst. Der Präsident des Kammergerichts Berlin lehnte die Bewerbung ab, da nützte es dem Jurastudenten auch wenig, dass er laut Unterlagen sein erstes Staatsexamen mit 9,0 Punkten abgelegt hatte – fast ein Prädikatsexamen. Das gelang ihm allerdings nur, weil er vom Gefängnis Sonderurlaub erhalten hatte.

Der Kammergerichtspräsident begründete seine Ablehnung mit einem Passus in der entsprechenden Prüfungsordnung. Die legt fest, dass ein Bewerber abgelehnt werden kann, wenn er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden ist.

Der Gerichtspräsident konnte nicht ahnen, was mit dieser Ablehnung verbunden sein würde. Denn im Winter 2020 wird die Politik aktiv, mehr oder weniger gezwungenermaßen. Aber zugleich ist der abgelehnte Student auch Teil der nächsten umfangreichen Vorwürfe.

Aber erst einmal zog der abgelehnte Bewerber im Januar 2019 vor das Verwaltungsgericht Berlin – erfolglos. Eine Einzelrichterin gab dem Kammergericht im Juli 2019 Recht. Der Bewerber gab nicht auf, zog vor das Oberverwaltungsgericht (OVG), und diesmal hatte er Erfolg.

Jugendstrafe sein nicht gleichbedeutend mit Freiheitsstrafe

Das OVG teilte in einem Beschluss im November 2019 mit, dass eine Jugendstrafe nicht gleichbedeutend mit einer Freiheitsstrafe sei. Ein Jugendlicher habe, so sinngemäß das Gericht, nicht automatisch die sittliche und geistige Entwicklung eines Erwachsenen. Und da in der Berliner Prüfungsordnung nicht Jugend- und Freiheitsstrafe gleichgesetzt sind, greife hier der Passus mit den zwei Jahren Freiheitsstrafe nicht. Das Kammergericht müsse einen neuen Bescheid erlassen.

Unter diversen Juristen in Berlin, die den Fall kannten, rief diese Entscheidung wechselweise Empörung und Unverständnis hervor. Wie könne man so einen Mann in den juristischen Vorbereitungsdienst zulassen?

„Das OVG hat eine Regelungslücke offengelegt“

Vor allem aber ruft der Fall die Politik auf der Plan. „Das OVG hat eine Regelungslücke offengelegt“, gibt Sebastian Brux, Pressesprecher der Senatsjustizverwaltung, zu. Denn eine Jugendstrafe, egal wie lang sie ist, führt bisher grundsätzlich nicht zur Ablehnung eines Bewerbers. Diese Gesetzeslücke soll nun geschlossen werden.

„Unabhängig von diesem Verfahren ist ein Referentenentwurf zur Änderung der Berliner Juristen-Ausbildungsordnung in Arbeit, der die bisherige feste Grenze von zwei Jahren Freiheitsstrafe flexibler gestalten soll, um Ermessensspielräume zu eröffnen“, sagt Brux. „Wir würden gerne einzelfallbezogen entscheiden können, ohne dass pauschal jede Jugendstrafe zum Ausschluss führen würde. Ein solcher Einzelfall kann auch die Verurteilung zu einer Jugendstrafe sein. Eine schematische Handhabung verbietet sich mit Rücksicht auf den Resozialisierungsgedanken des Jugendstrafrechts.“ Fakt ist, dass die Justizverwaltung erst seit diesem Fall eine Änderung der Ausbildungsordnung ausarbeitet.

Verwaltungsrichter wussten nicht, dass er seit drei Wochen schon wieder in Untersuchungshaft saß

Bis dahin war das Ganze ein Fall für Verwaltungsjuristen. Doch es geht bei dem Jurastudenten noch um viel mehr: erneut hohe kriminelle Energie nämlich, zumindest, wenn die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft zutrifft.

Als das Oberverwaltungsgericht im November 2019 seinen Beschluss veröffentlichte, da wussten die Verwaltungsrichter nicht, dass der Mann, der sich zum Vorbereitungsdienst einklagte, seit drei Wochen schon wieder in Untersuchungshaft saß. Dort sitzt er bis heute, in der JVA Moabit, verhaftet am 24. Oktober 2019 in Berlin, nach sieben Monaten Ermittlungsarbeit.

Der Vorwurf: Betrug, Urkundenfälschung, gewerbsmäßiger Handel mit Dopingmitteln, insgesamt mehr als 200 Taten. Mutmaßlicher Schaden: mehrere 100 000 Euro. Mehr als zweieinhalb Jahre lang sollen die Betrügereien gedauert haben. Ein Fall, der bei der Staatsanwaltschaft als Organisierte Cyberkriminalität geführt wird. Am selben Tag wie der Jurastudent wurde auch ein mutmaßlicher Komplize in Bremen festgenommen. Auch er wird in Berlin angeklagt.

Ermittlungen haben mit Anzeige eines Kreditkartenanbieters begonnen

Begonnen hatten die Ermittlungen mit der Anzeige eines Kreditkartenanbieters. Der stellte fest, dass über ein POS-Terminal Überweisungen abgewickelt wurden. POS steht für „Point of Sale“. Ein POS-Terminal wird zum bargeldlosen Bezahlen in Geschäften genutzt. Dabei kann an einem POS-Terminal sowohl mit Kreditkarten wie auch mit Debitkarten bezahlt werden. Mit einem angemieteten POS-Terminal sollen die Angeklagten betrügerisch Geld auf ihre eigenen Konten überwiesen haben. Konten, die sie unter Aliasnamen eröffnet hatten.

Ein POS-Terminal gibt zwar den Standort an, an dem ein Vorgang ausgeführt wird, doch diese Kontrolle haben die Täter mit einem speziellen Programm umgangen. In der Fachsprache heißt das „Geospoofing“.

Das Geld floss als Kryptowährung, eine Methode, mit der man den Geldfluss schwer nachvollziehen kann. Teilweise, das haben die Ermittler herausgefunden, floss das Geld auch auf Auslandskonten.

Die Täter organisierten ein kompliziertes Verwirrspiel

Für den oder die mutmaßlichen Täter gab es allerdings einen beträchtlichen Risikofaktor: die Kreditkarte und die Kontoeröffnungsunterlagen. Die konnten sie sich ja nicht nach Hause schicken lassen, dann wären sie aufgeflogen. Die Adressen, die sie bei der Eröffnung der Konten angegeben hatten, waren ebenso gefälscht wie die Namen, auf die sie liefen.

Also mussten die Täter ein kompliziertes Verwirrspiel organisieren. Sie stellten einen Postnachsendeantrag an eine Alibiadresse. Für die lag schon der nächste Postnachsendeantrag vor, und Endadresse war letztlich eine Service Station im Zentrum von Berlin. An diese Adresse kamen alle Unterlagen, die für die Täter bestimmt waren. Die Servicestation hatte mit dem mutmaßlichen Betrug nichts zu tun, sie ist ein reiner Dienstleister.

Allerdings war damit noch nicht Endstation. Die gesammelten Unterlagen wurden wiederum transportiert, Kreditkarten und Kontoeröffnungsunterlagen landeten in einer DHL-Station, in der man seine Post persönlich abholen kann. Der oder die Täter waren clever genug, dass sie eine Station gewählt hatten, die nicht videoüberwacht wurde.

In akribischer Kleinarbeit folgten die Ermittler den Spuren

Die Ermittler folgten nach akribischer Kleinarbeit den Spuren bis zu dieser DHL-Station. Durch weitere Ermittlungen, bei denen DHL entscheidende Informationen beisteuerte, konnte die Kripo letztlich ein Foto jenes Mannes machen, der an der DHL-Station die Unterlagen abholte. Auf diesem Foto war im Hintergrund ein Auto zu sehen, das von dem mutmaßlichen Täter benutzt wurde. Über das Auto kamen die Ermittler in vielen kleinen Schritten auf den Namen des Hauptverdächtigen.

Der wurde umfassend überwacht, und die Ermittler stießen auf einen weiteren Verdächtigen. Die Beiden sollen die Konten mutmaßlich auch für weitere Taten genützt haben. Unter einer Website sollen sie im großen Stil Anabolika verkauft haben, mit dem Doper ihre Muskeln aufblähen. Bei einer Razzia wurden später im Haus des Hauptverdächtigen große Mengen des Dopingmittels entdeckt.

Mutmaßliche Täter sollen auch Konzertkarten und Bafög-Anträge gefälscht haben

Aber auch auf mutmaßlichen Betrug auf einer Ebay-Verkaufsplattform stießen die Ermittler. Gegen Vorkasse sollen die mutmaßlichen Täter unter anderem Staubsauger und Kernbohrmaschinen verkauft haben. Ebenfalls mutmaßlich im Angebot der Verdächtigen: gefälschte Konzertkarten mit beachtlicher musikalischer Breite: Tickets für Schlagersänger Roland Kaiser, den Rapper Eminem, den Popstern Beyoncé, alles dabei.

Das soll den Verdächtigen allerdings nicht genügt haben. Auch mit gefälschten Bafög-Anträgen sollen sie versucht haben, Kasse zu machen, allerdings erfolglos. Finanzielle Unterstützung erhielten die fiktiven Studenten nicht.

Hauptverdächtiger soll vorher in Wirtschaftskanzlei gearbeitet haben

Der Jurastudent, der in Berlin in U-Haft sitzt, soll ein Doppelleben geführt haben, das sind sich die Ermittler sicher. Und dieses Doppelleben wäre, wenn die Vorwürfe zuträfen, nicht ohne Pikanterie. Denn der Hauptverdächtige arbeitete vor seiner Festnahme in einer großen Wirtschaftskanzlei – als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Ausgerechnet in der Compliance-Abteilung war er eingesetzt, jener Gruppierung also, die für ethische Standards zuständig ist. Das Führungszeugnis, der er der Kanzlei bei seiner Bewerbung vorlegte, soll gefälscht gewesen sein.

Bei einer Razzia fanden Ermittler in der Wohnung des Jurastudenten noch einen Gegenstand, der Raum für Phantasie lässt: einen Stempel der FU Berlin.

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