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Ein Ort für Musik. In der Apostel-Paulus-Kirche in Schöneberg spielen Nur Ben Shalom und sein Ensemble jüdische Melodien.

© Kitty Kleist-Heinrich

Musik gegen das Vergessen: Nur Ben Shalom spielt jüdische Überlebensmelodien

Nur Ben Shalom und sein Ensemble bringen vergessene jüdische Musik wieder ins Gedächtnis. Gespielt wird in Kirchen, Synagogen und an muslimischen Orten.

Die beiden Komponisten Shmuel Blasz und Shmuel Lazarovich waren Freunde und mussten als Juden in einem ungarischen Arbeitslager schuften. Im März 1944 besetzte Nazi-Deutschland das einst verbündete Ungarn. Blasz wurde in Auschwitz ermordet; Lazarovich überlebte das KZ Dachau. Er konnte die Musik des Freundes retten und für nachkommende Generationen bewahren. Eines der Stücke gehört zu den insgesamt zehn Werken, die der israelische Klarinettist Nur Ben Shalom und sein Nimrod Ensemble bei dem ersten Konzert der Reihe „Lebensmelodien“ am Sonntag in der Apostel-Paulus- Kirche in Schöneberg spielen wollte – wie alle Konzerte mit Publikum musste es Corona-bedingt verschoben werden. Zu hören sind die „Lebensmelodien“ trotzdem, sie werden jetzt in der leeren Kirche erklingen im Gedenken an die Pogromnacht vor 82 Jahren. Der Radiosender RBB Kultur überträgt am Sonntag ab 20:04 Uhr.

Melodien zum Überleben

Der aus Tel Aviv stammende Nur Ben Shalom kam vor zwölf Jahren nach Berlin, um hier Klarinette zu studieren. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, Musik jüdischer Komponistinnen und Komponisten, die in der Nazizeit, im Angesicht des Holocausts entstand oder gespielt wurde, vor dem Vergessen zu retten – und wieder zum Leben zu bringen.

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50 Lebensmelodien, die in Archiven weltweit recherchiert wurden, möchten er und sein Ensemble in den kommenden zwei Jahren bei Konzerten an verschiedenen Orten in Deutschland aufführen – oftmals wird es das erste Mal nach dem Ende der Nazizeit vor 75 Jahren sein, dass sie wieder gespielt werden. Es sind Melodien, die in manchen Fällen den Menschen das Leben angesichts der tödlichen Bedrohungen ein wenig erträglicher gemacht haben.

Am Projekt ist auch die muslimische Alhambra-Gesellschaft beteiligt

Das Projekt „Lebensmelodien“ wird vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, gefördert. Es ist Teil der Kooperation „Grenzgänge“, an der unter anderem neben dem Evangelischen Kirchenkreis in Tempelhof-Schöneberg und der Apostel-Paulus-Gemeinde auch die muslimische Alhambra-Gesellschaft beteiligt ist. Der interreligiöse Dialog ist Michael Raddatz, dem Superintendenten des Kirchenkreises, und Martina Steffen-Elis der Gemeindepfarrerin wichtig.

Im interreligiösen Dialog. Gemeinsam brachten Nur Ben Shalom und Michael Raddatz das Projekt auf den Weg.
Im interreligiösen Dialog. Gemeinsam brachten Nur Ben Shalom und Michael Raddatz das Projekt auf den Weg.

© Privat

Seit einigen Jahren finden in der Kirche Veranstaltungen statt, die sich kulturellen Themen über die Grenzen der Religion hinaus widmen. „Wir wollen die Kirche nach außen öffnen, Grenzen überschreiten“, sagt Pfarrerin Steffen Elis, deren Kirche, ein wunderschöner roter Backsteinbau zwar die zweitgrößte in Berlin ist, deren Gemeinde mitten im Akazienkiez aber mit rund 2140 Mitgliedern zu den kleinsten zählt.

Stadtteil mit jüdischer Tradition

Superintendent Raddatz hält die Kirche für einen guten Standort des Projekts – schon allein aus der Geschichte und der Tradition des Bezirks heraus. „In Schöneberg und gerade im nahen Bayerischen Viertel haben früher viele jüdische Familien gelebt.“ Aydin Süer von der Alhambra-Gesellschaft war sofort von dem Projekt überzeugt und findet es wichtig, daran beteiligt zu sein. Die Aufarbeitung der Shoah sei auch für die muslimische Bevölkerung Deutschland Teil ihres Selbstverständnisses.

Wo wird gespielt?

Das Besondere an der Veranstaltungsreihe wird sein, dass die „Lebensmelodien“ nicht nur an christlichen Orten zu hören sein werden, sondern ebenso an jüdischen und muslimischen. Im Januar soll es beispielsweise ein Konzert in der Synagoge in der Charlottenburger Pestalozzistraße geben, sagt Projektleiterin Juni Hoppe, die in ihrem Berufsleben auch Interreligiöses vereint. Sie ist Vikarin in Schöneberg und arbeitet zudem als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Abraham-Geiger-Rabbiner-Kolleg in Potsdam. Sie ist von den Lebensmelodien begeistert. Sie zeigten: „Musik war ein Zufluchtsort.“

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