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E-Scooter sollen in diesem Sommer Berlin erobern.

© Herbert Neubauer/APA/dpa

Mobilitätswende in Berlin: „Wir erleben hier etwas völlig Neues“

Mobilitätsforscher Stephan Rammler über den Berliner Verkehr, Innovationen mit Struktur, störrische SUV-Fahrer – und mangelnden Mut.

Stephan Rammler (51) ist Direktor des Berliner Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (IZT). Mit dem Mobilitätsforscher sprachen Sidney Gennies und Henrik Mortsiefer.

Herr Rammler, Tausende neue Carsharing-Autos werden in Berlin stationiert, die Zahl der Leihfahrräder wächst weiter, jetzt kommen auch noch die E-Scooter. Wie viele Experimente verträgt die Stadt?

Man muss die Rahmenbedingungen festlegen, unter denen die Stadt das verkraften soll. Es ist keine gute Idee, in einen klassisch regulierten Markt ohne gut geplante Prozesse neue Produkte zu schütten. Die Siedlungsstruktur, die Wertorientierung, die Sozialisation und die emotionalen Zugänge zu Fortbewegungsmitteln sind über Jahre gewachsen. Seit Kriegsende ist Berlin als autogerechte Stadt geplant worden. Das wird man nicht von heute auf morgen ändern. Es braucht zuvor eine Anpassung des Verkehrsrechts, eine Regulierung des Verhaltens und eine Debatte über die für alle gerechte Nutzung des öffentlichen Raums, damit aus den neuen Dienstleistungen ein gutes großes Ganzes werden kann.

Was wäre die Alternative?

Die Stadt braucht konkrete Ziele. Sonst gibt es nur Chaos. Also zum Beispiel Emissionsminderungsziele oder eine Vorstellung davon, wie lange ein Mensch brauchen soll, um zur nächsten Station des öffentlichen Nahverkehrs zu kommen. All das könnten steuernde Kriterien sein. Die müsste man aber in einem großen Bild einmal festlegen. Dann erst kann man fragen: Wie machen wir das?

Gehen andere Metropolen planvoller vor?

Berlin hat schon ein politisches Ziel, aber Probleme beim Übergang zur operativen Ebene. Das kann zu tun haben mit mangelnder Planungskompetenz, weil Sachbearbeiter fehlen. Und die Planer, die da sind, sind in der automobilen Gesellschaft sozialisiert. Die Planer einer autogerechten Stadt sind nicht die, die man braucht, um eine multimodale Stadt zu planen.

Ist es nicht auch ein Zeichen von Innovationsfreudigkeit, wenn so viele Modelle in einer Stadt erst einmal zugelassen werden – wenn auch etwas chaotisch?

Chaos ist nicht synonym mit Innovationsoffenheit. Innovation braucht immer eine klare Strukturierung. Erfolgreiche Innovation war in der Geschichte nie chaotisch. Nach dem Motto: Wir überlassen es dem Kunden, welches Modell sich durchsetzt. Das funktioniert schon deshalb nicht, weil Konsumenten noch nach den Regeln ihrer alten Welt denken.

Sind Sie optimistisch, dass Berlin so umgebaut werden kann?

Ich bin professioneller Optimist. Noch ist zwar nicht entschieden, ob der Transformationsprozess gelingen wird. Aber das Potenzial ist da, die Konzepte liegen vor. Es mangelt nicht an Technik oder Konzepten, sondern an Mut. Konkretes Beispiel: Wenn es der politische Wille ist, „Mobility as a service“, also die ganzen Ridesharing-Angebote zu stärken, dann müssen wir womöglich dem Taxigewerbe an der ein oder anderen Stelle zu nahe treten und das Personenbeförderungsgesetz ändern. Das trauen sich Politiker ungern, weil das eine starke Lobby ist.

Wobei der Verkehrssenatorin da die Hände gebunden sind. Das Personenbeförderungsgesetz müsste auf Bundesebene geändert werden. Man könnte ihr sogar zugutehalten, dass sie jetzt erst einmal alle Modelle in der Stadt zulässt, um den Handlungsbedarf zu demonstrieren.

Es wäre zynisch, den Druck steigen zu lassen und diesen Konflikt auf dem Rücken der Bevölkerung auszutragen. Natürlich ist es so, dass wir für viele Dinge zunächst eine grundsätzliche Entscheidung auf Bundesebene bräuchten. Die Verkehrswende können wir unter diesem Verkehrsminister auf keine Weise erwarten. Das ist ein totales Politikversagen der nationalen Ebene seit mehr als zehn Jahren. Ich hoffe auf die Macht der Kommunen, sie müssen sich organisieren und der übergeordneten Ebene klarmachen: Wir brauchen das.

Wieso überlässt man es nicht Unternehmen, die Entwicklung voranzutreiben?

Mobilität ist in meinen Augen ein Stück moderne Daseinsvorsorge. Es geht um Gerechtigkeit. Wenn man das so sieht, muss man die landeseigenen Verkehrsbetriebe stärken. Denn theoretisch besteht die Gefahr, dass wenn Sie den Verkehrsmarkt total deregulieren und alle Angebote in den Markt lassen, einer auf die Idee kommt, nicht nur die private Konkurrenz anzugreifen, sondern alles machen zu wollen. Dann haben wir die Daseinsvorsorge abgeschafft. Und wenn die Techfirmen dann den Markt dominieren, erhöhen sie die Preise. Das kann nicht das Ziel sein.

Stephan Rammler.
Stephan Rammler.

© promo

Wir müssen also neue Technologien ermöglichen, zugleich ist dies aber das Einfallstor für eine gefährliche Entwicklung?

Sie müssen damit leben, dass wir nicht auf alle Fragen schon eine Antwort haben. Was wir hier erleben, ist etwas völlig Neues. Was wir aber brauchen, sind temporäre, laborhafte Öffnungen. Weil wir überhaupt erst mal ausprobieren müssen, wie ein Start-up auf eine kluge Art mit den etablierten Verkehrsanbietern der Stadt zusammenarbeiten kann.

War es denn klug von Verkehrssenatorin Günther, zu sagen, die Leute sollen ihre Autos abschaffen?

Ich würde das nie so formulieren. Sicher ist das Auto beziehungsweise vor allem seine unökonomische Nutzung nicht mehr zeitgemäß. Das ist aber etwas anderes, als zu sagen, die Leute sollen darauf verzichten. Die Politik ist herausgefordert, erst mal Alternativen zu schaffen. Wenn plötzlich von heute auf morgen alle Berliner ihr Auto abschaffen wollten und den öffentlichen Verkehr nutzen, gäbe es die Kapazitäten gar nicht. Wichtig ist also der Ausbau des ÖPNV. Und dann müssen die Schnittstellen mit den neuen Angeboten optimiert werden.

Und das reicht?

Aus der Forschung der letzten 50 Jahre wissen wir, dass das allein nichts ändert. Ab einem bestimmten Punkt muss man sagen: Jetzt sind die Alternativen so gut, dass wir anfangen zu regulieren. Über Parkraumbewirtschaftung, über Citymaut. So, dass Fahrzeuge mit hohem Emissionsausstoß und viel Platzverbrauch schlechter gestellt sind als beispielsweise kleine emissionsarme Fahrzeuge.

Das dürfte Konflikte hervorrufen.

Man muss da mit viel Feingefühl rangehen, nicht auf Konfrontation. Das kann man von Kopenhagen lernen. Die haben vor 30 Jahren angefangen. Und sie hatten Konflikte und haben die ausgehalten und ganz viel geredet. Man wird die Gewohnheiten nicht in fünf Jahren ändern können.

Kommt das Auto in Ihrer Vision der Zukunft vor?

Es geht gar nicht anders. Wir sind eine hochgradig individualisierte Gesellschaft, die emotional eng mit dem Auto verknüpft war und ist. Aber in den Städten ändert sich das gerade. Nicht alle, aber viele im urbanen Milieu drücken ihre Individualität durch Verzicht auf Besitz aus, durch Flexibilität. Das Auto als Besitz könnte also künftig gar nicht mehr opportun sein, wohl aber als Dienstleistung wie beim Ride- und Carsharing.

Was machen wir in der Zwischenzeit mit den Leuten, die nicht zu dieser modernen Elite gehören?

In Teilen der Innenstadt ist das schon das Mehrheitsmilieu. Man muss aber bei der Verkehrsplanung die Lage der Quartiere differenzieren. Am Stadtrand gibt es andere Bedingungen. Dort kann man noch einen Parkplatz finden, dort braucht man auch das Auto vielleicht. Da muss man sich überlegen, wie man denen Angebote macht, damit auch der Pendler aus Kleinmachnow seinen SUV stehen lässt und mit Ridesharing-Angeboten zur nächsten S-Bahn-Station kommt.

Ist es nicht naiv, zu glauben, dass der SUV-Fahrer einfach umsteigt?

Es gibt immer elitäre Milieus, denen es egal ist, wie ihr Verhalten sich auf andere auswirkt. Wenn es gute Alternativangebote gibt, müssen Sie die irgendwann zwingen. Wir wollen eine nachhaltige Mobilität, haben aber gleichzeitig eine Gesellschaft, die massiv altert. Das heißt, wir betreiben eine Politik für Menschen, die 60, 70 sind. Und wenn Sie die fragen, können die sich natürlich mehrheitlich überhaupt nicht mehr vorstellen, in so komische Elektroautos zu steigen. Das geht aber auf Kosten der Generation unserer Kinder. Wenn wir in eine Gesellschaft reingehen, wo qua Mehrheitsverhältnis diejenigen, die aus der Vergangenheit kommen, die Politik für die Zukunft determinieren, ist das ein Problem. Deswegen müssen wir natürlich den älteren Generationen entgegenkommen. Aber auch den Mut haben, zu sagen: nur bis zu einem bestimmten Punkt.

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