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Auch das Haus Kopenhagener Straße 13, das gerade saniert wird, taucht in „Mein Skandinavisches Viertel“ von Torsten Schulz auf.

© Mike Wolff

Mit Torsten Schulz durch Pankow: Sehnsucht nach dem Norden

Gibt es das Skandinavische Viertel überhaupt? Aber klar, Torsten Schulz hat doch zweimal darüber geschrieben – einen Roman und ein Flaneurbuch.

„Am liebsten ist er mit Nicole auf der Fußgängerbrücke zwischen Kopenhagener und Dänenstraße, die S-Bahnen fahren unter der Brücke in Richtung Osten, und die, die nach Westen fahren, biegen kurz vor der Grenze Richtung Norden ab. Man kann über die Grenze schauen, Wedding heißt der Bezirk auf der anderen Seite.“

Die Brücke als Verbindung zwischen südlichen und nördlichen Teil

Er, das ist Matthias Weber, Hauptfigur des 2018 erschienenen Romans „Skandinavisches Viertel“, Nicole seine erste Jugendliebelei – erfundene Figuren also. Die Brücke aber, die ist echt, Verbindung zwischen dem südlichen und dem nördlichen Teil des von Schönhauser Allee, Gleim-, Norweger-, Schwedter- und Bornholmer Straße umzirkelten Viertels. Und echt hier an der Brücke ist selbstverständlich ihr Schöpfer Torsten Schulz, Professor für Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg, Regisseur von Dokumentarfilmen – und erfolgreicher Autor von Romanen wie „Boxhagener Platz“ samt dazugehörigem Drehbuch.

„Charme des Verfalls, der ästhetisiert wird“

Selbstverständlich spaziert er nicht zum ersten Mal über die Brücke, um das Skandinavische Viertel zu erklären – erst anlässlich des Romans, diesmal nun wegen des neuen, eher dokumentarischen Bandes „Mein Skandinavisches Viertel“. Und hierhin, in die Sonnenburger Straße, deren Zipfel nördlich der Kopenhagener Straße unmittelbar in die Brücke über die Ringbahn-Trasse übergeht, muss er eigentlich zwingend führen, schließlich liegt hier für ihn „der Dorfkern des Viertels“.

Eine recht heterogene Ecke: Das der Brücke nächstgelegene Wohnhaus vorne saniert, im Erdgeschoss das hippe Restaurant „Kohlenquelle“, dessen Name an eine frühere Nutzung erinnert und in dem auch Schulz schon gelesen hat. Sein Hinterhaus noch im Nachwendezustand, was ja einen eigenen Reiz hat, den, wie Schulz sagt, „Charme des Verfalls, der ästhetisiert wird“ – so sehr, dass sogar Touristen durchmarschiert seien.

Eine Heldenfigur für Gentrifizierungsgegner

Skandinavisches Viertel in Prenzlauer Berg? Eigentlich kein offizieller Name, trotz der vielen ihm um 1900 verliehenen nordeuropäischen Straßennamen. Von der bei Wikipedia vorgenommenen „Aufteilung des gemeinten Areals in Gleimviertel und Nordisches Viertel“ weiß auch Schulz, beruft sich aber auf die „Selbstermächtigung seines zwölfjährigen Protagonisten“ im Roman, der den nicht-skandinavischen Straßen in einem fiktiven Stadtplan passendere Namen verleihe und dem er darin nicht nachstehen wolle.

Bei Maklern immerhin sei der Begriff üblich, und sei nicht auch Matthias Weber – der Roman springt zwischen Vorwende-Kindheit und dem Leben im Neuen Berlin munter hin und her – selbst Makler? Einer mit Grundsätzen übrigens, geprägt von Jugenderfahrungen im Viertel, ihm auch im Beruf eng verbunden, so dass er lediglich dort tätig wird, Wohnungen nur an Leute vermittelt, die ihm hierhin zu passen scheinen. Für Gentrifizierungsgegner sicher eine Heldenfigur.

„Mein Skandinavisches Viertel“

Ein Kiezroman also und als Ergänzung die Kiezbetrachtungen eines Flaneurs? Solche Einordnungen ärgern Torsten Schulz. „Kiez – das hat so was Folkloristisches, etwas von Ickedettekiekemal, das alles so klein macht.“ Ihm selbst geht es darum, „die Welt in einem Tautropfen“ zu zeigen, als Pars pro Toto, etwa seine Nacht des Mauerfalls, als er sich in West-Berlin im Taxi zu einem Kumpel fahren ließ, ohne eine einzige D-Mark in der Tasche, darauf vertrauend, der Freund werde schon zahlen. Das tat der auch – seufzend. Nicht jeder Westler war auf Rosen gebettet, der junge Mann aus dem Osten hatte das nicht bedacht.

Eine Episode aus „Mein Skandinavisches Viertel“, die Schulz bei einer Tasse Tee im „Zuccherino“ erzählt, einer stilvoll-dezent eingerichteten Bäckerei mit Café in der Gleim- Ecke Cantianstraße – für ihn „ein guter Ort, um über das Skandinavische Viertel zu reden“. Zunächst besonders über den Unterschied zwischen Roman und Flaneurbuch: In beiden stecke Autobiografisches, hier weniger, dort mehr, aber eigentlich sei das Viertel im Roman nur die Spielbühne, es hätte auch ein anderes sein können. Die dort genannten Cafés werde man vergeblich suchen, es gebe Vorbilder, aber mit anderen Namen.

Auch Fiktionales fließt mit ein

„Mein Skandinavisches Viertel“ dagegen habe einen dokumentarischen Ansatz, ja, es sei für ihn geradezu befreiend gewesen, statt immer nur am Schreibtisch zu sitzen einfach loszuziehen, Leute anzusprechen, Geschichten zu sammeln, die sich mit eigenen Erinnerungen zu einem Porträt seines früheren Wohnquartiers fügen, das er sich erst dadurch noch einmal, und diesmal richtig, angeeignet habe.

[Torsten Schulz: Skandinavisches Viertel. Roman. Klett + Cotta, Stuttgart. 265 Seiten, 20 Euro. Ders.: Mein Skandinavisches Viertel. Reihe „Berliner Orte“. be.bra Verlag, Berlin. 144 Seiten, 12 Euro]

Wobei das mit dem Dokumentarischen bei Schulz Grenzen hat, fließt doch auch im neuen Buch Fiktionales ein. Von dem Parteibonzen, der seiner ziemlich wilden Tochter eine Wohnung im Grenzgebiet besorgt, um Besuche zweifelhafter Bekanntschaften zu verhindern, hat er gehört.

Der Galgenhumor des Ostteils

Dass sie aber gerade dort einen ebenfalls verbannten Hallodri kennen und lieben lernt, hat Schulz dazuerfunden – frei nach seinem Grundsatz, dass die besten Geschichten oftmals die unwahrscheinlichsten seien, sie müssten allerdings möglich sein. Und sie sollten – jedenfalls für Schulz, der noch eine kleine Wohnung im Winsviertel von Prenzlauer Berg hat, ansonsten aber in der Mecklenburgischen Schweiz lebt – in Berlin spielen, sieht er sich als Schriftsteller doch mit seiner Heimatstadt und ihrem besonders im Ostteil anzutreffenden Galgenhumor eng verbunden und davon geprägt. Eine Geschichte anderswo ansiedeln? „Es ist für mich viel einfacher, mich in eine Berliner Figur hineinzubewegen.“

Auch hier befindet sich die Stadt im Umbruch

Eine lange literarische Plauderei bei einem einzigen Tee, aber nun ist es wirklich Zeit für einen Spaziergang durchs Viertel. Dem Schulz mit seinen Büchern zugleich eine Art Nachruf geschrieben hat, da auch hier die Stadt sich im völligen Umbruch befindet. Wie er ohnehin eine Affinität zum Nachruf, zum Rückblick auf Früheres habe, wie er zugibt. Die traditionelle Berliner Kneipe etwa, für einige Figuren seines Romans vor dem Mauerfall noch zentraler Lebensort, gebe es kaum noch. Die „Bornholmer Hütte“, die „Schwarze Hexe“ oder „Höher’s Gaststube“ in der Rhinower Straße 1, Ecke Gleimstraße, gleich gegenüber dem „Zuccherino“, sind für Schulz „drei der letzten Kneipenmohikaner“.

„Die Aura des Films wird bald nicht mehr anzutreffen sein“

Das äußere Anzeichen des Wandels ist in Berlin meist ein Baugerüst, aktuell zum Beispiel in der Kopenhagener Straße 13, Dreh- und Handlungsort des 1980 auf der Berlinale zweifach ausgezeichneten Defa-Spielfilms „Solo Sunny“, des letzten Films von Konrad Wolf. Hier im Hinterhof hat die von Renate Krößner gespielte Titelfigur gewohnt, aus ihrem Fenster hat sie auf die gen Westen fahrende S-Bahn geblickt. In Torsten Schulz hat der Film die Lust entzündet, selbst Drehbücher zu schreiben, und ihn bewogen, sich fürs Dramaturgiestudium in Babelsberg zu bewerben. Heute ist das Haus eines der letzten in der Straße, die saniert werden. „Die Aura des Films wird bald nicht mehr anzutreffen sein“, schreibt er – Nachruf auch hier.

Auch er selbst war Teil der Veränderung

Klar, auch er selbst war Teil der Veränderungen im Viertel, zum ersten Mal Ende der Neunziger, als er nach einer Eigentumswohnung Ausschau hielt, so auch im Eckhaus Driesener / Schivelbeiner Straße. Dort fragte ihn ein Mann, warum er denn eine Wohnung kaufe, ohne selbst in ihr wohnen zu wollen – das Misstrauen eines von Gentrifizierung Bedrohten. Schulz hat die Wohnung nicht genommen, auch bei weiteren Besichtigungen blieb der „unbehagliche Eindruck, etwas zu besitzen, das für jemand anderen so etwas wie gefühltes Eigentum war oder auch – ja, sogar das – ein Stück Heimat“. Später überwand er das, kaufte in der Rhinower Straße eine Wohnung. Ob sein fiktiver Makler sie ihm überlassen hätte? Man darf es annehmen.

Mittlerweile aber ist Mecklenburg sein Lebensmittelpunkt. In der dortigen Mentalität sieht er eine gewisse Nähe zu der in Berlin, aber sich dort wirklich zu Hause fühlen, das Leben dort als Material eines Romans nutzen? Bis es so weit ist, werde es wohl zehn Jahre dauern.

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