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Ein Hin und Her und ein Durcheinander: Gruppen von Querdenkern, dazwischen immer wieder Polizei - die Bismarckstraße in Charlottenburg am Sonntag.

© Fabian Sommer/dpa

Mit Selbstbewusstsein und Gewalt: Querdenker führen Berliner Polizei streckenweise vor

Trotz verbotener Demos ziehen Tausende Corona-Skeptiker durch Berlin. Sie durchbrechen Polizeiketten, es gibt 600 Festnahmen, ein Gewerkschafter wird verprügelt.

Sie durften nicht und kamen doch: Insgesamt 5000 Querdenker und andere Corona-Verharmloser haben am Sonntag in verschiedenen Teilen Berlins protestiert. Am Nachmittag bildete sich eine Großdemo mit Tausenden Teilnehmern, die aus Charlottenburg über Schöneberg nach Kreuzberg zog und dabei mit anderen Aufmärschen verschmolz und größer wurde.

Der Zug war, wie so viele an diesem Tag, nicht angemeldet. Noch am späten Samstagabend hatte das Oberverwaltungsgericht das Verbot der von Querdenken-Kopf Michael Ballweg angemeldeten Großkundgebung mit 22.500 Teilnehmenden bestätigt. Masken- und Abstandsgebote wurden am Sonntag systematisch ignoriert. Mehrfach durchbrachen Aktivisten Absperrungen der Polizei. Bis zum frühen Abend wurden laut Polizei rund 600 Menschen vorübergehend festgenommen.

Der ganz große Aufmarsch wie am 1. August 2020 mit 30.000 Menschen blieb zwar aus, dennoch gelang es der Bewegung, zahlreiche Anhänger zu mobilisieren und die Polizei streckenweise regelrecht vorzuführen. Die Lage war oft unübersichtlich, bereits im Vorfeld waren über einschlägige Telegramkanäle guerillaartige Proteste angekündigt worden. Immer wieder kam es zu Rangeleien mit Einsatzkräften. Journalisten und Beamte wurden bedrängt und beschimpft.

Genau ein Jahr nach der ersten Corona-Großdemonstration in Berlin war der Wille bei vielen Corona-Verharmlosern spürbar, endlich wieder ein Zeichen zu setzen: gegen die aus ihrer Sicht bevormundende, unsinnige Pandemiebekämpfung, gegen „Mainstream“-Wissenschaft, gegen die Regierung und die Medien.

Die vergangenen Auftritte von „Querdenken“ hatten bundesweit nur noch wenige Menschen angezogen. Mit den wärmeren Temperaturen und der Lockerung vieler Regeln hat die Bewegung scheinbar an Zuspruch verloren – ein möglicher Trugschluss, vor dem Experten bereits gewarnt hatten.

Zum Teil spielen sich chaotische Szenen ab

Am Samstag sah es zunächst so aus, als seien die zahlreichen Aufrufe der Querdenker erneut verpufft – nur wenige Demonstrierende waren im Stadtgebiet unterwegs. Am zweiten Tag des Demo-Wochenendes zeigte sich ein anderes Bild, zum Teil spielten sich chaotische Szenen ab.

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Die insgesamt 17 Demo-Verbote schienen die „Querdenker“ nicht zu interessieren. Die Behörden begründeten ihre Verbotsentscheidung damit, dass in der Vergangenheit auf Querdenker-Demos die Hygieneregeln vielfach missachtet wurden – der Pandemieschutz sei aber wichtiger als die Versammlungsfreiheit. Führende Querdenker beteuerten dagegen, diesmal würden die Teilnehmer selbstverständlich Masken tragen. Eine Voraussage, die sich im Laufe des Sonntags als rundherum unwahr erwies.

Ersatzversammlung an der Tankstelle

Ab 11 Uhr sollte ein Autokorso aus dem Querdenken-Spektrum vom Olympiastadion unter anderem über den Kurfürstendamm in Richtung östliches Stadtzentrum fahren. Gleichzeitig versammelten sich mehrere hundert Personen an der Reichsstraße in Westend zu einer verbotenen Ersatzversammlung an einer Tankstelle.

Eimer gelten nicht als Mundschutz im Sinne der Maskenpflicht.
Eimer gelten nicht als Mundschutz im Sinne der Maskenpflicht.

© Fabian Sommer/dpa

Trotz Anzeigen, Platzverweisen und Zugangssperren war die Kreuzung zur Länderallee zeitweise blockiert – auch für den Autokorso. Nach Polizei-Angaben kamen bereits hier bis zu 2000 Menschen zusammen, riefen „Friede, Freiheit, keine Diktatur“, Trommeln waren zu hören, einige hatten sich kostümiert, etwa mit Federschmuck auf dem Kopf.

Pfefferspray, Schlagstöcke - und Polizei flieht

Gegen Mittag wurde die Stimmung aggressiver – Demonstrierende überrannten Absperrungen, Polizisten versuchten, sie aufzuhalten, setzten Pfefferspray und Schlagstöcke ein – nicht immer erfolgreich. Nach einem Durchbruch floh die Polizei in einen Hauseingang, Beamte wurden verhöhnt und beschimpft.

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Am Fürstenplatz wurden mehrere Personen festgenommen, dennoch gelang es den Querdenkern, in Richtung Theodor-Heuss-Platz vorzudringen und von dort den Kaiserdamm entlangzuziehen. In Teilen Charlottenburgs herrschte Ausnahmezustand, während sich auch in Mitte in der Straße Unter den Linden die ersten Demonstrierenden sammelten.

Immer wieder Durchbrüche, immer wieder Festnahmen

Vom Kaiserdamm aus zogen die Querdenker weiter auf die Straße des 17. Juni. Immer wieder gab es Durchbrüche, immer wieder Festnahmen. Trotzdem gelangten mehrere Tausend Menschen bis zur abgesperrten Siegessäule. Masken, Abstände? Weitgehend Fehlanzeige. Schließlich begann die Polizei, die Straße des 17. Juni zu räumen. Dutzende Menschen wurden weggetragen und festgenommen, die Stimmung unter den Aktivisten war aggressiv.

Festnahmen am Großen Stern.
Festnahmen am Großen Stern.

© Fabian Sommer/dpa

An der Siegessäule standen Wasserwerfer bereit, kamen aber nicht zum Einsatz.
An der Siegessäule standen Wasserwerfer bereit, kamen aber nicht zum Einsatz.

© Fabian Sommer/dpa

Von der Bismarckstraße aus machte sich außerdem eine unangemeldete Großdemo mit mehreren Tausend Teilnehmern über den Ernst-Reuter-Platz in Richtung Zoo und Gedächtniskirche auf, unbehelligt von der Polizei. Auf dem Tauentzien vereinte sich der Strom mit einer anderen Demo.

Ein Rechtsextremist träumt vom Sturz der Regierung

Auf Youtube und dem Streamingdienst Dlive bejubelten rechte Aktivisten den Tag als großen Erfolg für die Bewegung. Ein szenebekannter Rechtsextremist verkündete, die Straße des 17. Juni werde früher oder später in „Straße des 1. August“ umbenannt. Zuvor müsse aber noch die Regierung gestürzt werden.

Das Selbstbewusstsein kam nicht von ungefähr: Aus der illegalen Großdemo in Charlottenburg war eine illegale Großdemo in Schöneberg geworden, der sich auch Menschen anschlossen, die vom Großen Stern gekommen waren. Die Polizei machte keinerlei Anstalten, den Marsch aufzuhalten oder auf Einhaltung der Maskenpflicht zu drängen. Die Beamten verhinderten nicht, dass Passanten angepöbelt und Journalisten bedrängt wurden. Einem Pressevertreter wurde ins Gesicht gespuckt. Die Polizei verhinderte auch nicht, dass Mitarbeiter eines Corona-Test-Zentrums von vorbeilaufenden Querdenkern aufs Übelste beschimpft wurden.

Tausende ziehen durch die Straßen: „Oh, wie ist das schön“

An der Ecke Kleiststraße/Martin-Luther-Straße stieß eine weitere Demo vom Wittenbergplatz hinzu. Jubel brach aus. Mehrere Tausend Menschen zogen durch die Martin-Luther-Straße und sangen „Oh, wie ist das schön“. In Kreuzberg gelang es ihnen schließlich, auf Höhe des Halleschen Tors den Landwehrkanal zu überqueren und dem Regierungsviertel damit einen entscheidenden Schritt näherzukommen. Bald darauf zerstreute sich hier jedoch der Protest. Die Polizei verhinderte das weitere Durchkommen Richtung Mitte.

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Am frühen Abend versammelten sich dann noch einmal wenige Hundert Corona-Verharmloser auf dem Alexanderplatz. Auch hier wurden Polizisten bedrängt - diese blieben dennoch passiv. Als die Einsatzkräfte schließlich doch noch begannen, den Platz zu räumen, setzte ein Platzregen ein, woraufhin sich die Menge ein weiteres Mal zerstreute.

Gewerkschafter vom Fahrrad gezerrt, geschlagen, getreten

Über den Tag verteilt wurden mehrfach Journalisten bedroht. Auch Jörg Reichel, der Berliner Landesgeschäftsführer der Deutschen Journalisten- und Journalistinnenunion in Verdi, wurde Opfer einer brutalen Attacke aus Reihen einer „Querdenken“-Demonstration.

Aktivisten zerrten ihn vom Fahrrad, schlugen und traten auf ihn ein. Nur durch das Eingreifen von Passanten ließen die Täter von Reichel ab. Der Gewerkschaftler erlitt Verletzungen an Schulter und Beinen und befindet sich aktuell im Krankenhaus.

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