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Beginnend am Jagdschloss bietet sich eine Umrundung des Grunewaldsees an.

©  Paul Zinken/dpa

Mit Rilke und Döblin durch Berlin: Ein Podcast für literarische Spaziergänge durch die Stadt

Mit Alfred Döblin durch Prenzlauer Berg, mit Rainer Maria Rilke in den Grunewald – „Hidden Tracks“ führt an historische Orte, manchmal schön, manchmal blutig.

Große Literatur – das ist bisweilen bloße Statistik. Zum Beispiel über den alten Schlachthof von Berlin: „Im Nordosten der Stadt zwischen der Eldenaer Straße über die Thaerstraße weg über die Landsberger Allee bis an die Cotheniusstraße die Ringbahn entlang ziehen sich die Häuser, Hallen und Ställe vom Schlacht- und Viehhof. Er bedeckt eine Fläche von 47,88 ha, gleich 187,50 Morgen, ohne die Bauten hinter der Landsberger Allee hat das 27 Millionen 83 492 Mark verschluckt, woran der Viehhof mit 7 Millionen 682 844 Mark, der Schlachthof mit 19 Millionen 410 648 Mark beteiligt ist.“

Das ist aus Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, aus der nicht nur Vegetariern das Gruseln lehrenden Schlachthof-Passage – das blutige Gewerbe als Ausschnitt aus dem Großstadtleben der späten zwanziger Jahre, teils nüchtern bilanzierend, teils mit rabenschwarzem, fast groteskem Humor geschildert.

Die Geschichte des Schlachthofs in Prenzlauer Berg endete 1991, eine neue Zeit begann, zugleich geprägt von den Wünschen des Denkmalschutzes wie von den Anforderungen an ein Entwicklungsgebiet voller Neubaupläne.

Ein Ort für einen Stadtspaziergang? Sicher nicht die erste Wahl – es sei denn, man hat Döblin im Ohr, so brillant interpretiert, jede Nuance des Textes pointiert vorgetragen wie von der Schauspielerin Almut Zilcher.

„Hidden Tracks“, so heißt das schon einige Wochen laufende Podcast-Projekt des Deutschen Theaters, in dem auch der knapp 26-minütige Ausschnitt aus dem Döblin-Roman zu hören ist. Es ist einer der vielen Versuche von Kulturtreibenden, dem Lockdown-Frust irgendwie zu begegnen, wieder kreativ zu sein.

Immer seien nur Pläne für die Zeit danach geschmiedet worden, nun wollte man endlich wieder tatsächlich künstlerisch arbeiten, schildert Sima Djabar Zadegan, Dramaturgin am Deutschen Theater. So sei aus den Gesprächen, was denn da für ein Theater-Ensemble geeignet sei, die Idee eines literarischen Audio-Walks entstanden, passende Geschichten biete Berlin schließlich genug.

Sieben Audio-Walks mit Laufzeit von jeweils 30 Tagen

Auf sieben hat man sich schließlich geeinigt, im Wochenrhythmus veröffentlicht und jeweils zu hören für einen Monat, ob über Smartphone und Kopfhörer beim literarisch begleiteten Spaziergang an den in den Texten ausführlich beschriebenen, sie mitunter nur streifenden Orten oder auch zu Hause vor dem Computer.

Weitere „Hidden Tracks“ sind erstmal nicht geplant, auch im Theater hofft man auf einen sehr bald wieder möglichen Spielbetrieb, zumindest auf den beiden dafür vorbereiteten Open-Air-Bühnen auf dem Vorplatz und im Innenhof.

Die Rechte für die Texte zu erlangen, sei nicht immer einfach gewesen, berichtet Sima Djabar Zadegan, dies und die teilweise fälligen Nutzungsgebühren erklären auch die begrenzte Laufzeit von 30 Tagen, durch die die ersten Beiträge bereits nicht mehr zu hören, sondern nur noch die Antworten der jeweiligen Ensemblemitglieder auf drei Standardfragen nachzulesen sind: wie es ihnen die vergangenen Monate ergangen ist, was ihnen an dem vorgelesenen Text besonders gefällt und wo in Berlin sie ihn gerne hören würden.

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Caner Sunar und Regine Zimmermann etwa schlagen einen Spaziergang um den Grunewaldsee vor, beginnend am Jagdschloss – der rechte Erlebnisort für die von ihnen zusammengestellte und im Wechsel vorgetragene Collage aus Memoiren, Biografien, Gedichten, Briefen und Tagebucheinträgen von Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke, die Beschwörung ihres „zweisamen Ineinanderlebens“, wie die schöne Lou die frühe Zeit ihrer Beziehung zu ihrem empfindsamen Rainer beschrieb – „bei dem uns alles gemeinsam war, eine bescheidene Existenz am Schmargendorfer Waldrande bei Berlin, wo in wenigen Minuten der Wald in Richtung von Paulsborn führte, vorbei an zutraulichen Rehen, die uns in die Manteltasche schnupperten, während wir barfuß gingen.“

Poetischer Soundtrack einer unkonventionellen Beziehung

Nun, auf derart zutrauliche Rehe wird man beim Weg um den Grunewaldsee heute vergeblich warten. Ohnehin ist die Collage als Wanderführer wenig geeignet, ist vielmehr der poetische Soundtrack für den Spaziergang an einem Ort, wo der Dichter und seine Muse, allerdings eine auf Augenhöhe, einander nahe waren.

So sind die Texte der Widerschein einer unkonventionellen Beziehung, die Caner Sunar nachhaltig beeindruckt hat, fasziniert von der „Entwicklung, die der junge Rilke durch diese Beziehung macht“.

Durch die Liebe zu einer Frau, wie Regine Zimmermann sich begeistert, die „ihrer Zeit weit voraus, radikal, modern, immer in Bewegung gegen den geistigen Stillstand“ war, die „mit ihrer Sehnsucht nach der großen wahren Liebe fern von Bürgerlichkeit und Klischees“ die Rolle der Frau neu definiert habe. Die Folge ist noch bis Freitag abrufbar.

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Über die „literarischen Fundstücke“, so heißt es auf der Website des Theaters, lade man ein zu einer „Entdeckungstour entlang Berlins Straßen, Parks und Seen“. Das trifft auf Döblins Schlachthof-Porträt sicher zu, bei dem der besondere Reiz des Zuhörens gerade aus dem Kontrast zwischen imaginierter Vergangenheit und erlebter Gegenwart erwächst, zwischen dem „brachialen Text“, wie Sima Djabar Zadegan es nennt, und der Harmlosigkeit eines Berliner Neubauviertels mit übrig gebliebenen historischen Einsprengseln.

Aber es funktioniert auch bei einer nur lockeren, mehr assoziativen Verbindung von Ort und Text wie bei Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke – und selbst bei einer nur durch die Vorleserin hergestellten Verbindung beider Komponenten.

Einsam in Spandau

Spandauer Glockenturmstraße, Murellenteich, Schanzenwald? Sie kommen in „Marx und Scheherezade“ aus „Guten Morgen, Du Schöne“ nicht vor, Maxie Wanders zum Kultbuch aufgestiegene Aufzeichnungen ihrer Gespräche mit Frauen über deren Leben, die Familie, die Männer, Liebe und Sex, Arbeit und Politik.

Ein Text, der so viele große Themen enthalte, „obwohl er so einfach erzählt daherkommt“, wie Schauspielerin Franziska Machens schreibt, die für die knapp 34 Minuten Frauenleben genau den richtigen, nicht rezitierenden, sondern schlicht alltäglichen, mitunter fast schnodderigen Ton findet.

Den Schanzenwald habe sie erst neulich entdeckt: „Was für ein traumhafter Ort!“ Warum sie den Text dort am liebsten gehört wissen würde? „Weil man dort auf eine Art mit sich allein ist, die ich nur selten erlebt habe.“ Sie jedenfalls würde dort, „mit dem Text auf den Ohren“, alleine spazieren gehen.

„Ich kann mir vorstellen, dass die Botschaft des Textes (zumindest die, die ich darin gelesen habe) sich dort wunderbar entfaltet.“ Worin die besteht? Einfach mal reinhören.

„Hidden Tracks“ ist bis maximal 11. Juni verfügbar unter www.deutschestheater.de, auf Soundcloud, Spotify und iTunes.

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