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Zurück ins eigenständige Leben: Initiativen beraten und unterstützen MS-Patienten.

© Getty Images

Mit Multipler Sklerose leben: Die Eroberung der Eigenständigkeit

Beim Tagesspiegel Fachforum Gesundheit wurde diskutiert, was bei der Nervenkrankheit zu selbstbestimmtem Leben verhelfen kann.

Julia Hubinger ist Mutter von drei Kindern, findet neben ihrem Job immer wieder Zeit für ihren Blog „Mama Schulze“ – und lebt dabei mit der Nervenkrankheit Multiple Sklerose. Über diesen Lebensbegleiter, den sie sich nicht aussuchen konnte, hat sie zudem ein Buch geschrieben („Alles wie immer, nichts wie sonst. Mein fast normales Leben mit Multipler Sklerose“). Und sie klärt auf ihrer Homepage über die chronische Krankheit auf – mit erstaunlicher Leichtigkeit und entwaffnendem Humor. So schreibt sie dort, ihre Diagnose habe sie in der Uniklinik ausgerechnet am Welt-MS-Tag bekommen, der jedes Jahr am letzten Mittwoch im Mai stattfindet. „Hineingegangen war ich in die Klinik am Welt-Hirntumor-Tag. Da habe ich doch Glück gehabt, oder?“

Glück im Unglück hatte sie auch, weil sie unter der „schubförmig remittierenden“ Form der Erkrankung leidet, bei der sich die Symptome nach einem Schub wieder zurückbilden. Anders stellt sich das bei der „sekundär progredienten“ Form des Leidens dar, bei der Verschlechterungen sich erst nach einiger Zeit schleichend einstellen, oder bei der „primär progredienten“ Form der neurologischen Erkrankung, die knapp jeden zehnten der weltweit 2,4 Millionen MS-Patienten trifft und bei der die Taubheitsgefühle, das Kribbeln, die Sehstörungen oder die Bewegungseinschränkungen von Anfang an und stetig zunehmen.

„Es ist enorm, was sich bei den Therapieoptionen getan hat“

Die diagnostischen „Schubladen“ dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die betroffenen Menschen ihre Symptome und Einschränkungen ganz unterschiedlich erleben und die zeitlichen Abläufe stark variieren. Nicht umsonst gilt die MS als „Krankheit der tausend Gesichter“. Gemeinsam ist allen, dass bei der Erkrankung der Hauptbestandteil der Isolierschicht der Nervenfasern, das Myelin, geschädigt wird. Das führt dazu, dass Impulse nur noch langsam oder gar nicht mehr weitergegeben werden können. Diese Entzündungen treten vielfach an verschiedenen (multiplen) Orten auf und können zu Narbenbildung (Sklerose) führen. Wenn sich die neurologische Erkrankung erstmals bemerkbar macht, sind die Betroffenen – in der Mehrzahl Frauen – im Schnitt erst 30 Jahre alt, haben im Beruf noch nicht Fuß gefasst, möchten möglicherweise eine Familie gründen.

Dieser besonders konstruierte Stuhl macht Gesunden das Fatigue-Syndrom nachvollziehbar.
Dieser besonders konstruierte Stuhl macht Gesunden das Fatigue-Syndrom nachvollziehbar.

© Michele Galassi

Immerhin: In den letzten Jahren hat es in Sachen Behandlung der MS immer wieder gute Nachrichten gegeben. „Es ist enorm, was sich bei den Therapieoptionen getan hat“, urteilt die Neurologin Frauke Zipp von der Uniklinik in Mainz. Beim Tagesspiegel Fachforum Gesundheit zum Thema „Zukunft neu entdecken: Selbstbestimmt leben mit Multipler Sklerose“ berichtete die MS-Expertin, dass die Mediziner sich kürzlich in einer europäischen Leitlinie auf einheitliche Behandlungspfade festgelegt haben. Die medizinische Versorgungssituation in Deutschland sei derzeit ausgesprochen gut: „Die Therapien gelangen zu den Patienten.“

Das seit 2009 vom Bundesforschungsministerium (BMBF) geförderte Kompetenznetz für Multiple Sklerose vernetzt Ärzte, die sich spezifisch mit MS beschäftigen und stellt aktualisierte Informationen zur Verfügung. „In Deutschland ist dies besonders wichtig, da Firmen-unabhängige, unter Experten abgestimmte Therapie-Entscheidungen wesentlich für die Patienten sind“, sagte Zipp. Umso bedauerlicher sei, dass das BMBF nächstes Jahr die Förderung des Netzwerks beende.

Antworten, die dringend gebraucht werden

Im Verlauf der angeregten Diskussion wurde immer wieder deutlich, dass die Beratung direkt nach der Diagnosestellung längst nicht so gut ist wie die Therapie, und das schon aus Zeitgründen „Wer neu betroffen ist, wird heute schnell aus dem Krankenhaus entlassen“, sagte die Neurologin Judith Haas, die im Berliner Jüdischen Krankenhaus das Zentrum für MS leitet. Dabei sei es doch entscheidend, „die Beratungsangebote dort zu verankern, wo der Mensch zum Patienten wird“, stellte Birgit Bauer fest, die selbst seit 13 Jahren mit MS lebt und sich in den Sozialen Medien mit ihrer „Manufaktur für Antworten“ engagiert.

Es sind Antworten, die dringend gebraucht werden. In jeder Woche bekomme sie zehn bis 15 Zuschriften von neu Diagnostizierten, die sie um Rat fragen, berichtete auch Bloggerin Julia Hubinger. Inzwischen gibt es Initiativen, erfahrene MS-Patienten als „Peer-Berater“ in Krankenhäuser zu schicken. Auch später besteht unter Umständen immer wieder Beratungsbedarf, etwa in sozialrechtlichen Fragen.

Vanessa Ahuja, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, spricht beim Tagesspiegel-Fachforum.
Vanessa Ahuja, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, spricht beim Tagesspiegel-Fachforum.

© Michele Galassi

Medizinischen wie psychologischen und sozialen Rat bietet auch die Deutsche Multiple-Sklerose-Gesellschaft (DMSG). „Man muss bei uns nicht Mitglied sein, um seine gezielten Fragen loszuwerden“, versicherte Karl Baum als Vorsitzender des Berliner Landesverbandes. Er äußerte Verständnis dafür, dass gerade junge Menschen, die die Krankheit ja meist trifft, ungern Mitglied bei Selbsthilfeorganisationen werden. Ein Begleiter, an den sie sich vertrauensvoll wenden können, ist für jüngere chronisch kranke Menschen aber möglicherweise auf dem Smartphone abrufbar. Gleich zwei Apps für MS-Kranke wurden auf dem Fachforum vorgestellt: Martin Mayr hat in Zusammenarbeit mit dem Ulmer Neurologen Michael Lang die „Patient Concept App“ als intelligenten Therapiebegleiter entwickelt und berichtete, dass schon über 2500 MS-Patienten sie nutzen. Mit Förderung der gemeinnützigen Hertie-Stiftung hat der Student Tim-Lorenz Depping die „MS-Health-App“ entwickelt, die unter anderem einen Test für Gangsicherheit und Gleichgewicht ermöglicht und perspektivisch auch für Forschungszwecke zur Verfügung stehen soll.

Die Mehrheit findet, dass ihr Umfeld zu wenig Verständnis aufbringt

Aus dem Gleichgewicht droht auch eine Gruppe von Menschen zu kommen, an die viele nicht gleich denken, wenn von der unheilbaren neurologischen Erkrankung die Rede ist: Partner und Familienangehörige, die sich zumindest zeitweise intensiv um die ihnen nahe stehenden Patienten kümmern. Das ergab eine anonyme Online-Befragung des Pharmaherstellers Merck in sieben Ländern, an der sich insgesamt 1050 Menschen beteiligt haben: Die meisten der befragten Angehörigen (44 Prozent) kümmern sich um ihren Partner oder ihre Partnerin, viele aber auch um ihr (meist schon erwachsenes) Kind oder um ein Elternteil. Wenn sie beginnen, sich in der Pflege zu engagieren und den Erkrankten bei täglichen Verrichtungen zur Hand zu gehen, sind 62 Prozent von ihnen noch unter 35 Jahre alt. Die Mehrheit findet, dass ihr soziales Umfeld zu wenig Verständnis für ihre Situation aufbringt. Viele müssen sich im Beruf immer wieder freinehmen.

Von den Erkrankten selbst muss die Hälfte heute den Job aufgeben und vorzeitig in Rente gehen. Die Bewerbungen derjenigen, die frisch mit der Diagnose konfrontiert sind, werden oft gar nicht erst berücksichtigt, berichtete die Neurologin Judith Haas, die auch Vorsitzende der DMSG ist. Vor Verbeamtungen werde oft das geforderte Gutachten zur Belastung, sagte der Münsteraner Neurologe Sven Meuth. „Dabei ist man ja nicht unbedingt weniger leistungsfähig, wenn man eine Behinderung hat“, befand der Bundestagsabgeordnete Alexander Krauß, Mitglied in den Ausschüssen für Gesundheit und für Arbeit und Soziales.

Lars Düsterhöft, der im Berliner Abgeordnetenhaus den Ausschuss für Integration, Arbeit und Soziales leitet, stellte die Gesundheitsprüfungen vor einer Verbeamtung grundsätzlich infrage. Sollte man generell lieber verschweigen, dass man erkrankt ist? Eine Teilnehmerin aus dem Publikum gab zu bedenken, dass es durchaus erlaubt sei, die Unwahrheit zu sagen, wenn in einem Vorstellungsgespräch die Frage nach einer Krankheit oder Behinderung gestellt werde. Es wurde aber auch deutlich, welche immense Belastung das Verschweigen darstellt – und dass es besser wäre, wenn keiner das in unserer Gesellschaft nötig hätte.

Selbstbestimmt leben mit der Krankheit, die man sich nicht ausgesucht hat und die nicht einfach wieder aus dem Leben verschwindet: Dazu gehört neben guter medizinischer Betreuung auch die Inklusion, betonte Vanessa Ahuja, die im Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Abteilung mit dem sperrigen Namen „Teilhabe, Belange von Menschen mit Behinderungen, Soziale Entschädigung, Sozialhilfe“ leitet. Nicht nur in ihrem Vortrag wurde deutlich: Oft scheitert die viel zitierte Teilhabe an Dingen, die gesunden Menschen banal erscheinen mögen. Etwa daran, dass der Zugang zur Praxis der Physiotherapeutin oder des Arztes nicht barrierefrei ist.

Den „Mama-Blog“ zu MS von Julia Hubinger kann man im Internet unter der Adresse mamaschulze.de verfolgen.

Der Landesverband Berlin der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft bietet Informationen auf seiner Website unter www.dmsg-berlin.de

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