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Minderjährige Dealer: Elfjähriger erneut gefasst

Zum wiederholten Mal wurde ein Elfjähriger von der Polizei beim Dealen erwischt. Jetzt erwägt das Jugendamt seine Einweisung in ein Heim.

Tagelang haben sie nach ihm gesucht. Am Dienstag ist es der Polizei gelungen, den jungen Drogendealer, der von sich selbst sagt, er sei elf Jahre alt, zu fassen. Wo genau das war, und wie das den Beamten glückte, wollte die Polizeipressestelle aus ermittlungstaktischen Gründen nicht sagen; laut „RBB-Abendschau“ war es in Brandenburg. Aber eines ist klar: Diesmal soll der Palästinenser, der als minderjähriger unbegleiteter Asylbewerber eingeschleust und schon ein Dutzend Mal beim Dealen mit Heroin gefasst wurde, nicht wieder so schnell entkommen. Das Steglitzer Jugendamt will ihn in ein Heim nach Brandenburg bringen, dafür muss allerdings erst ein Vormund bestellt werden. Das Evangelische Jugend- und Fürsorgewerk Lazarus (EJF) will das Kind gern aufnehmen, sagt EJF-Jugendhilfeexpertin Sigrid Jordan- Nimsch. Zudem wollen Kriminalmediziner wie berichtet das wahre Alter des Jungen ermitteln.

Die Heime sind oft die letzte Chance für kriminelle Kinder. Sie haben mit Heroin gedealt. Sie haben den Zeitungskiosk nebenan überfallen, spielen am liebsten Gewaltvideos, werden beim Kuscheln ganz still und machen nachts ins Bett. Andere sind hyperaktiv, weinen, wenn jemand das Kuscheltier versteckt, drücken auf ihrer Hand, aggressiv gegen sich selbst, glühende Zigaretten aus und treten dem besten Freund in den Magen. Sie machten Geld mit Haschisch-Verkäufen – und sind jetzt stolz darauf, dass das von ihnen betreute Huhn die meisten Eier im Stall legt.

Sie alle haben unterschiedliche Schicksale, unterschiedlich engagierte Elternhäuser, sind verschiedener Herkunft. Und haben doch eines gemeinsam: Die Jugendhilfe kennt sie als „delinquente Kinder“, und sie werden in Heimen mit kleinen Wohngruppen betreut, in denen es Rituale, strenge Regeln und viele sozialpädagogische Fachkräfte gibt. 60 Prozent davon sind Jungen, die durch ihr kriminelles Handeln, durch Verhaltensstörungen, durch psychische Krankheiten aufgefallen sind. Der Staat nimmt sie eine Zeitlang aus ihren Familien heraus. Auch, weil die Mutter das Kind vor lauter Hilflosigkeit schlägt, weil der Vater es missbraucht hat. In Berlin und Brandenburg hat sich das EJF als Spezialist im Umgang mit delinquenten Kindern und kriminellen Jugendlichen einen Namen gemacht. EJF will auch die angeblich elf und dreizehn Jahre alten Drogenhändler, die zuletzt mehrfach auffielen, gern aufnehmen – obwohl die beiden schon extreme Fälle seien. „Die Kinder wollen nicht“, sagt EJF-Jugendhilfe-Referentin Jordan- Nimsch. Die Familien als Erziehungsberechtigte sind nicht bekannt. Mehrfach wurden die Jungen wegen Heroinhandels festgenommen und beim Kindernotdienst abgegeben, doch dort blieben sie nie lange. Die Vermisstenstelle des Landeskriminalamts sucht jetzt den 13-Jährigen weiter intensiv. Die Polizeipressestelle will auch zu ihm nichts Genaues sagen, es würden lediglich einschlägige Treffpunkte überprüft, hieß es. Von Angehörigen und Kontaktpersonen der jungen Dealer in deren Kiezen erhoffen die Beamten sich Hinweise.

Das Fürsorgewerk EJF bietet für delinquente Kinder und kriminelle Jugendliche wie den jungen Heroindealer insgesamt 87 Plätze in Berlin und Brandenburg. Für Kinder unter der Strafmündigkeitsgrenze von 14 Jahren gibt es vier Einrichtungen der Jugendhilfe. 220 Euro kostet so ein Platz das Jugendamt im Schnitt pro Tag. Der Betreuungsschlüssel liegt angesichts einer intensiven Rund-um- die-Uhr-Betreuung bei einer Fachkraft für jeweils drei Kinder. Zu einem Team gehören Mitarbeiter diverser Fachrichtungen: Heilpädagogen, Sozialarbeiter, Erzieher, aber auch Handwerker und Lehrer.

Vier Einrichtungen bietet EJF für Mädchen und Jungen, die vor einer noch schlimmeren kriminellen Karriere geschützt werden sollen. Die meisten liegen in der Uckermark, wie die beiden Wohngruppen mit sechs und acht Plätzen in Petershagen. Im benachbarten Luckow sind es neun Plätze. In Julienwalde gibt es 18 Plätze, in Groß-Pinnow acht. Alle Einrichtungen sind mit Kindern aus ganz Deutschland ständig belegt, sagt EJF-Sprecher Heiko Krebs. Wie viele Kinder aus Berlin gerade untergebracht sind, können weder EJF noch die Berliner Jugendverwaltung genau sagen. Die Senatsverwaltung verweist auf die Bezirke, deren Jugendämter zuständig sind. 60 Prozent der Kinder haben Eltern mit Migrationshintergrund: Polen, Russen, Araber, Bosnier, Türken und viele weitere Länder. Ihr Durchschnittsalter liegt bei etwa 13 Jahren. Auch eine Einrichtung für Mädchen, zumeist über 14 Jahre, gibt es, in Groß-Pinnow.

Jeder Lebensweg, jedes Elternhaus sei individuell, sagt die Jugendhilfe-Referentin – und somit auch die Art und Weise, auf das Kind einzuwirken. Geschlossene Heime sind in Berlin und Brandenburg politisch nicht gewollt. Doch alle Einrichtungen werden nach strikten Regeln und Ritualen geführt: Grenzen setzen, wo früher keine waren. Vieles klingt selbstverständlich: Gemeinsam aufstehen, frühstücken, in die Schule gehen, nachmittags zusammen spielen, Sport treiben. So etwas kannten die Kinder vorher nicht. Oder Schularbeiten. Jetzt sitzen sie zu zweit vor dem Lehrer, der plötzlich auch lobt. „Wir vermitteln andere Werte, das ist entscheidend“, sagt EJF-Referentin Jordan- Nimsch. Über Bestätigung beim Sport, bei der Tierpflege. Die Eltern werden mit eingebunden. „Wir sagen: Kommen Sie her, schlafen Sie bei uns im Bungalow, schauen sie, was ihr Sohn jetzt alles kann!“

Anderthalb Jahre oder länger leben die Kinder meist so zusammen. Abgeschlossene Zimmer, Alarmanlagen oder hohe Zäune gibt es nicht. Aber das Gelände dürfen sie nur mit einem Betreuer verlassen. „Alle erreichen wir nicht, trotz aller Bemühungen“, sagt Sigrid Jordan- Nimsch. Viele leben danach in einer betreuten Jugendwohngemeinschaft – und nicht mehr im Kinderzimmer.

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