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Das Foto zeigt eine Gruppe Kinder eines Kinderheimes aus Norderney im Jahr 1961.

© Verschickungsheime.de/A. Gobetto

Millionen fragwürdiger Kinderkuren: Erster Kongress zu „Verschickungsheimen“ der Nachkriegszeit

In Verschickungsheimen sollten Nachkriegskinder sich an der frischen Luft erholen. Stattdessen machten sie oft traumatische Erfahrungen.

Von Caroline Fetscher

Erstmals in Deutschland versammeln sich ehemalige „Verschickungskinder“. Auf der Insel Sylt tagen sie vom 21. bis 24. November, um mit einem Kongress auf das kaum erforschte Kapitel „Kinderkurheime“ in der Nachkriegsära der Bundesrepublik aufmerksam zu machen. In Hunderten Ferienheimen und Kindersanatorien verbrachten Säuglinge, Kleinkinder wie Schulkinder während der Aufbaujahre und des „Wirtschaftswunders“ oft mehrere Wochen, stets unbegleitet von vertrauten Erwachsenen.

Solche Verschickungen galten der Erholung vom rußigen Ruhrgebiet und anderen städtischen Ballungsräumen wie Hamburg oder West-Berlin. Auf Nordseeinseln, im Harz, im Schwarzwald sollten die Kinder „an der frischen Luft“ gedeihen und genesen. Viele machten stattdessen traumatische Erfahrungen mit schwarzer Pädagogik, etwa durch ehemaliges Personal von Einrichtungen des Nationalsozialismus.

Experten schätzen die Zahl der bundesdeutschen Kinder, die Interims-Aufenthalte in Heimen erlebten anhand der Anzahl der Heimplätze und der Belegungsfrequenz auf bis zu acht Millionen. 700 Ehemalige haben sich jetzt auf Initiative der Sozialpädagogin Anja Röhl miteinander vernetzt. Knapp hundert Ehemalige werden an dem Pionierkongress „Das Elend der Verschickungskinder“ teilnehmen.

Unterstützt werden die Organisatoren vom Kinderschutzbund Schleswig-Holstein und der Gemeinde Sylt. Wissenschaftlich begleitet wird der Kongress von gleich mehreren Koryphäen auf den Gebieten der Pädagogik, Psychologie und Sozialgeschichte, wie Thomas Harmsen und Siegrid Chamberlain, die über „Kontinuität der NS-Erziehungsprinzipien bis 1989“ spricht. Die Soziologin Christiane Dienel wird das Phänomen der Kinder-Kur-Verschickungen in den 1960er bis 1990er Jahren historisch einordnen.

„Unser Kongress will die überfällige öffentliche Debatte zu diesem Thema anstoßen“, erklärt Initiatorin Anja Röhl. „Dass Belastendes zur Sprache kommt, gehört zum Prozess individueller und gesellschaftlicher Heilung.“ Derzeit melden sich täglich mehr ehemalige Verschickungskinder bei dem von Röhl gegründeten Verein. 

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