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Bereits am Montag eröffnete Michael Müller (SPD), Regierender Bürgermeister von Berlin, die Festivalwoche zum 30. Mauerfalljubiläum.

© Kay Nietfeld/dpa

Michael Müller zum Mauerfall: Die Euphorie ist gewichen, doch die Freiheit muss bleiben

Die Wende führte auch meine Familie wieder zusammen. Das Jubiläum macht mich dankbar, auch wenn es Fehler gab. Ein Gastbeitrag des Regierenden Bürgermeisters.

Auf die Frage nach Träumen und Erwartungen am 9. November 1989 kommen mir vor allen Dingen die starken Emotionen in Erinnerung, die mich wie viele andere in diesen Tagen überkamen. Ich habe die Bilder noch genau vor Augen: Die vielen Menschen, die jubelnd auf der Mauer standen und auf den Straßen rund um das Brandenburger Tor, die sich mit Freudentränen umarmten. Ein unwirklicher Moment – für mich war es ein überwältigendes Ereignis und für meine Generation die wohl prägendste Erfahrung.

Viele Fragen gingen mir in den Tagen danach durch den Kopf: Was bedeutet das jetzt für Berlin, für das Leben der Menschen in unserer Stadt, auch für meine Familie und mich ganz persönlich? Ich war 1989 24 Jahre alt, hatte meine Ausbildung längst abgeschlossen und arbeitete mit meinem Vater in unserer Druckerei. Bereits 1981 war ich in die SPD eingetreten und im Frühjahr 1989 frisch in die BVV Tempelhof eingezogen. Natürlich haben wir hier auch die zunehmenden Proteste in Ost-Berlin wahrgenommen und die Entwicklungen verfolgt und diskutiert. Vieles mit gemischten Gefühlen, denn es war schwer einzuschätzen, wohin das führen würde. Es lag etwas in der Luft, aber mit dem Fall der Mauer hatte ich, wie viele andere auch, nicht gerechnet.

Die Mauer hatte mich bis dahin fast ein Vierteljahrhundert lang begleitet. Sie war immer da und auch ein Thema. Aber bedroht habe ich mich persönlich durch sie nie gefühlt. Das war natürlich die Perspektive eines West-Berliners, der sich, im Gegensatz zu den Menschen im Ostteil der Stadt, frei bewegen konnte. Aber es gab auch Momente, insbesondere im direkten Umfeld der Mauer oder an den Grenzübergängen, die einschüchternd waren.

Wie viele Familien hatten auch wir Verwandte in Ost-Berlin und auch in Thüringen. Die Geschichte meiner Familie war somit wie die vieler anderer Familien von der Teilung Deutschlands direkt betroffen. Wir haben regelmäßig Tagesfahrten über die Grenze unternommen, ob abends ins Theater oder zu Familienanlässen – oft auch nach Thüringen.

Mit der Wiedervereinigung verbindet mich somit nicht nur die Euphorie des 9. November 1989, die Aufgeregtheit und Freude in Berlin, sondern ganz persönlich die Zusammenführung meiner Familie nach 40 Jahren DDR. Ich bin bis heute dankbar dafür, dass das möglich wurde. Denn wir alle wussten auch schon damals, dass dieser Ausgang der Friedlichen Revolution – ohne Gewalt – ganz und gar nicht selbstverständlich war.

Heute können wir sagen: Berlin hat als Hauptstadt Wort gehalten

Erwartungen oder besser Hoffnungen in den Jahren des Umbruchs hatte ich viele. Der Fall der Mauer bedeutete für Berlin eine Zeitenwende, ein Aufbruch in die Freiheit. Schon damals war klar, dass sich damit die Rolle Berlins in Deutschland kolossal verändern würde, nicht sofort, aber langfristig. Dass Berlin Hauptstadt werden würde, war für mich als Berliner selbstverständlich, aber ich hatte eine schnellere Entscheidung erwartet. Was ich unterschätzt hatte, waren die starken Verharrungskräfte und Diskussionen bei dieser Frage, aber auch die enormen Herausforderungen, die auf unsere Stadt zukommen würden.

Dass Berlin Hauptstadt werden würde, war für mich selbstverständlich, aber ich hatte eine schnellere Entscheidung erwartet.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller

Heute können wir sagen: Berlin hat Wort gehalten, sich als Hauptstadt behauptet und zur führenden Metropole nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa entwickelt. Das war 1989 noch nicht absehbar. Natürlich habe ich mich damals als junger Mann auch auf den Weg gemacht, um die ostdeutschen Länder näher kennenzulernen.

Existenzängste waren für viele prägend und wirken nach

Zu Thüringen und hier insbesondere zu Weimar hatte ich durch die vorherigen Besuche bei meiner Familie bereits eine enge Verbindung. Und so fuhren mein Vater, mein Sohn und ich nach dem Fall der Grenze wieder dorthin. Es hat mich tief bewegt, dass gerade diese Stadt nun wieder ein Teil Gesamtdeutschlands werden könnte, mit ihren Identitätsfiguren Goethe, Schiller, Herder und ihren symbolträchtigen Orten wie dem Nationaltheater, wo die Nationalversammlung 1919 tagte und sich die erste demokratische Verfassung gab.

An diesem Ort, der eine so zentrale Bedeutung in unserer Geschichte hatte und wo die Errungenschaft der Demokratie und ihr Scheitern so eng beieinanderliegen, wird einem die ganze Reichweite der Geschehnisse des 9. November 1989 bewusst. In diesem Jahr konnte ich an den Feierlichkeiten zu 100 Jahren Nationalversammlung und Weimarer Reichsverfassung teilnehmen. Für mich war das ein großes Geschenk und ich habe mich an diesen Moment in Weimar mit meinem Vater nach dem Mauerfall noch einmal zurückerinnert.

Natürlich habe ich mich auch gefragt, wo wir heute eigentlich stehen. Für mich persönlich und meine Familie haben sich viele Erwartungen und Hoffnungen, die ich 1989 hatte, erfüllt. Ich genieße meine freie, gewachsene Heimatstadt Berlin und freue mich, dass nun meine ganze Familie ihr Leben in Demokratie und Freiheit gestalten kann. Doch meine Familiengeschichte ist nur eine von rund 83 Millionen Biografien in Deutschland. Und hinter jeder dieser Biografien steckt eine ganz eigene Geschichte zum Umbruch 1989. Die Erfahrungen mit der Wende sind eben vielschichtig.

Ich weiß, dass die Folgen für das Leben der Menschen in Ostdeutschland weitaus dramatischer waren als für uns in West-Berlin oder anderen Teilen Westdeutschlands. Unzählige ostdeutsche Erwerbsbiografien wurden unterbrochen, viele mussten sich beruflich umorientieren, andere fanden keinen Anschluss, gerieten in die Arbeitslosigkeit, nicht selten für Jahre. Sozialer Abstieg und Existenzängste – auch das waren prägende Erfahrungen für viele und das wirkt bis heute nach.

Wir müssen zusammenrücken und Freiheit und Demokratie schützen

Aber nicht nur das: Ich erlebe Menschen, die sich in ihrer gesamten Lebensleistung und auch im erlittenen Unrecht auch heute noch nicht wahrgenommen fühlen. Ihre Stimmen werden jetzt um den Jubiläumstag laut und das dürfen wir nicht ignorieren.

Vieles ist in 30 Jahren gelungen, aber eben nicht alles. Wir haben im Wiedervereinigungsprozess Fehler gemacht. Es ist uns noch nicht gelungen, alle Ungleichheiten zwischen West und Ost komplett abzuschaffen, und ja, damit haben wir auch Grund zu Enttäuschung gegeben. Und genau das müssen wir wahrnehmen und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Dazu gehört natürlich, dass wir für gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland arbeiten.

Wir haben im Wiedervereinigungsprozess Fehler gemacht.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller

In Kürze werde ich den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz Ost übernehmen und genau das in das Zentrum meiner Arbeit rücken. Darüber hinaus müssen wir gemeinsam – Politik und Gesellschaft – denen das Handwerk legen, die von der Enttäuschung der Menschen zehren, ihren Populismus damit nähren, Ressentiments schüren und Spaltung betreiben. Auch darin liegt unsere Verantwortung heute – 30 Jahre nach dem Fall der Mauer: dass wir zusammenrücken und unsere Freiheit und Demokratie gemeinsam schützen.

Und dennoch, bei allen Aufgaben, die noch zu meistern sind: Gemeinsam und ohne Mauer ein Leben in Freiheit und Frieden führen zu können, ist ein großes Glück und keine Selbstverständlichkeit. Darüber sollten wir uns in diesen Jubiläumstagen des Mauerfalls freuen und dankbar sein.

Michael Müller

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