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Ein Boot liegt auf dem Wasser des Singapur Rivers.

© Roslan Rahman/AFP

Michael Müller in Südostasien: Zwischen Berlin und Singapur liegen Welten

Michael Müller tourt mit der Berliner Wirtschaft durch Singapur. Eine faszinierende Stadt, finden die meisten. Als Vorbild taugt sie nur bedingt.

Plötzlich ist Singapur genau wie Berlin: Der Taxifahrer zieht eine Grimasse und flucht, bevor man den ersten Fuß in sein Auto setzen konnte. Man habe doch nur die von allen hier genutzte App des Uber-Konkurrenten Grab ausprobieren wollen, die in vielen Metropolen Asiens verbreitet ist, sagt der deutsche Fahrgast zur Entschuldigung. Wie soll man als Berliner wissen, dass man niemals an einer Bushaltestelle auf den Fahrer warten darf?

Der Mann, einer der renommiertesten Mobilitätsforscher der Republik, will als Teilnehmer einer Wirtschaftsdelegation aus Berlin dieser Tage den südostasiatischen Stadtstaat erkunden, er bekommt nun eine Lektion erteilt: Wenn ein Grab-Fahrer an einer Bushaltestelle anhält und derweil ein Bus anrollt, macht dessen Fahrer per Knopfdruck ein Foto von dem Privattaxi. Und das landet automatisch bei der Verkehrspolizei. Digitalisierung 4.0 und Smart-City-Kennzeichenerkennung sei Dank landet der Strafbescheid nur einen Augenblick später per Nachricht auf dem Smartphone.

Berlin präsentiert sich in Singapur.
Berlin präsentiert sich in Singapur.

© Kevin Hoffmann

Allein für diesen Versuch, die planlosen Europäer an der Bushaltestelle einzusammeln, muss er also 150 Singapur-Dollar (knapp 100 Euro) Strafe zahlen und drei Punkte in „Flensburg" kassieren, was in Singapur natürlich anders heißt. 24 Punkte haben Autofahrer im Jahr. „Die würde ich gern für was anderes ausgegeben", schimpft der End-30-Jährige. „Welcome to Singapore", kehlt er noch, um sich dann aber zu beruhigen.

Wo man herkomme, will er wissen. Deutschland? Das möge er, was offenbar viel mit Fußball zu tun hat – und auch ein wenig mit Berlin, wo er schon mal war. Berlin sei die Hauptstadt des aufregendsten Landes in Europa, meinen viele Leute hier. Also suchen Singapurer, die meisten ausgezeichnet ausgebildet, Kontakt nach Deutschland: Das behauptet jedenfalls ein (natürlich befangener) deutscher Offizieller, der hier in der Tropenhitze arbeitet.

Seine Begründung: Viele der bisherigen Partnerländer fallen aus. Die USA ziehen sich unter Präsident Donald Trump aus der gesamten Region zurück. China macht sich zwar auch hier breit, und die Vorfahren der meisten Singapurer stammen ja von dort. Zugleich wollen sie mehrheitlich verhindern, dass Singapur ein Vasallenstaat Pekings wird. Die einstige Kolonialmacht Großbritannien ist natürlich auch ein Ziel, allein der Sprache wegen. Aber was wird aus dem Land nach dem Brexit?

Singapur als Sprungbrett nach Südostasien

Also Deutschland! So rennen die Mitglieder der Gruppe von mehr als 20 Berliner Unternehmensvertretern, Verantwortlichen der Industrie- und Handelskammer (IHK) und Michael Müllers Senatskanzlei hier offene Türen ein, wenn sie wie am Montag auf einer mit etwa 150 Teilnehmern sehr gut besuchten Fachtagung um die Gunst neuner Partner werben. „Ich hoffe, dass das bereits 2018 ausgehandelte Freihandelsabkommen zwischen der EU und Singapur Anfang kommenden Jahres ratifiziert wird und neuen Schub bringt", sagt Müller am Rednerpult.

IHK-Präsidentin Beatrice Kramm erklärt – übrigens in sehr passablen Englisch mit britischer Färbung-, dass man als Unternehmer nicht so lange warten wolle. Viele Berliner Unternehmen wollten Singapur als Sprungbrett nach Südostasien nutzen, berichtet sie. Und verspricht: „Wir wollen Lösungen mit Ihnen entwickeln". Seit Sonntagabend schon touren Müller und Kramm durch den Inselstaat. Mit dabei sind prominente Berliner Managerinnen wie rbb-Intendantin Patricia Schlesinger, die hier mal das ARD-Studio geleitet hat und nun auf Suche nach Technologiepartnern für Redaktionssysteme ist.

BVG-Chefin Sigrid Nikutta studiert wie schon im Mai mit Müller in Tokio moderne Verkehrskonzepte. Und Sabine Kunst, die Präsidentin der Humboldt-Universität, ist eingeflogen, um mit Müllers Unterstützung eine Kooperation mit der hiesigen Universität auszuhandeln. Christian Göke, der Chef der Berliner Messe, stieß am Dienstag zur Delegation. Er wird mit Müller am Mittwoch die neue Tourismusmesse ITB Asia eröffnen, einen Ableger der ITB Berlin, dem größten und wichtigsten Branchentreffen der Welt.

Geografisch günstig

Der Ort für den Ableger des vielleicht erfolgreichsten Konzeptes der landeseigenen Messegesellschaft ist mit Bedacht gewählt: Singapur liegt geografisch günstig inmitten des mal mehr mal weniger festen Verbundes der Association of Southeast Asian Nations (Asean). Die teils sehr unterschiedlichen Länder dieser Gruppe zogen zuletzt mehr internationale Direktinvestitionen an als China oder das ebenfalls in wenigen Flugstunden erreichbare Australien.

Singapur liegt im Zentrum eines Marktes mit einem Dutzend Ländern, in der sich allesamt reisewillige und zahlungsfähige Mittelschichten entwickeln. Hier kommen die Worte der Berliner Offiziellen gut an, wie sich bei einer lockeren Party auf Kosten der Berliner Reisgruppe herausstellt.

Lydia Koh, die jungen Marketingchefin von German Accelerator, einem vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Programm, das jungen deutschen Start-ups den Einstig in Märkte Amerikas und Südostasiens erleichtern will, berichtet von wunderbaren Kooperationen.

Derzeit lernen zehn deutsche Jungunternehmer für ein paar Monate die Gründerszene Singapurs kennen, wo es besonders viel Expertise auf den Feldern der Finanz- und Gesundheitswirtschaft gibt. Die gibt es auch in Berlin. Und doch trennen die beiden Metropolen Welten – abgesehen von den etwa 14 Flugstunden plus Umsteigezeit.

Zwischen Singapur und Berlin liegen Welten

Eine Direktverbindung gibt es (noch) nicht. Singapur ist vergleichbar groß, die Insel hat nur 80 Prozent der Fläche Berlins, aber rund zwei Millionen Einwohner mehr. Das erfordert mehr Hochhausbauten, mehr Organisationstalent oder – wie man hier offenbar glaubt – mehr radikale Kontrolle der Bevölkerung, um Kriminalität und alle erdenklichen Regelverstöße zu unterbinden. Die Verwaltung insgesamt hat es gleichwohl ein wenig leichter, da Singapur ein souveränes Uno-Mitglied ist. Die Stadtregierung ist also auch die Staatsregierung.

Ethnisch und kulturell unterscheidet sich die einstige britische Kolonie stark vom angrenzenden Malaysia und Indonesien: 75 Prozent der Singapurer haben Vorfahren aus China. Größte Minderheiten sind Malaysier und Inder, wobei hierzulande kaum jemand Probleme mit dieser Unterscheidung zu haben scheint: Alle sind Singapurer, Gene zählen nicht! Die Staatsoberen predigen seit Jahrzehnten kollektiven Antirassimus als Kitt der Gesellschaft: Das ist von Außen betrachtet das vielleicht größte Vermächtnis des Staatsgründers Lee Kuan Yew, der drei Jahrzehnte Lang bis 1990 das Land regiert hat.

Doch von Lee sind auch Sätze überliefert wie: „Ein Übermaß an Demokratie führt zu disziplin- und ordnungslosen Bedingungen, die der Entwicklung schaden." Und das glaubt nicht nur sein Sohn, der bereits seit 2004 bis heute die Geschäfte als Premierminister die Geschäfte des Landes führt. Passt so eine Stadt zu Berlin, wo mitunter ein gewisses Maß an Disziplinlosigkeit unter den Begriffen „Freiheit" und „Toleranz" vermarktet wird?

Singapur bei weitem nicht so liberal wie Berlin

Singapur scheint für diese Weltregion zwar verhältnismäßig progressiv. Gleichwohl erregte die Installation einer Skulptur eines überlebensgroßen nackten Baby-Jungen in einem botanischen Garten für Wirbel. Und schwule Männer können – zumindest auf dem Papier – immer noch für zwei Jahre in den Knast wandern, sollten sie bei Austausch von Zärtlichkeiten erwischt werden.

Auch im Umgang mit der Presse hat man hier Probleme: Ein leitender Angestellter der großen Siemens-Niederlassung vor Ort ist derart verunsichert durch einen „nur" zwei Tage vorher angekündigtes Auftauchen dreier Journalisten, die die Berliner Delegation begleiten, dass er sie von Teilen seiner Präsentation ausschließt, wofür sich die Zentrale in München später entschuldigt. Der umgerechnet 225-Milliarden Euro schwere Staatsfonds Temasek und die Universität Singapur wollen gar keine Medienvertreter begrüßen.

IHK-Geschäftsführer Jan Eder (l.), IHK-Präsidentin Kramm und Michael Müller in Singpur.
IHK-Geschäftsführer Jan Eder (l.), IHK-Präsidentin Kramm und Michael Müller in Singpur.

© Kevin Hoffmann

Andere Firmen wie der größte Immobilienentwickler CapitaLand verlangen, das man wörtlich gefallene Aussagen vor einer Veröffentlichung erneut schriftlich vorlegt. Daher hier nichts mehr dazu. Singapur rangiert auf einem unrühmlichen Platz 151 von 180 auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation „Reporter Ohne Grenzen". Kritische Berichterstattung der Regierung gibt es praktisch nicht, wie bereits länger hier lebender Organisationsvertreter erklären.

Müllers Kritik ist eher zwischen den Zeilen zu hören

„Hier pflegt man eine andere Haltung zu den Grundrechten wie der Presse- und Meinungsfreiheit", stellt auch Michael Müller nach den ersten Terminen fest. „Gerade deshalb spreche ich das ja auch bei meinen Reden an." Das tut er in der Tat bei mehreren Gelegenheiten – in der Regel aber so, dass man zwischen den Zeilen hören muss. Er tritt niemanden auf den Schlips. Müller wirbt lieber aktiv für die Vorteile einer „Stadt der Freiheit", als die er Berlin auch von der Standortagentur Berlin Partner vermarktet wissen will.

„Freiheit und Toleranz, das sind keine weichen Standortfaktoren, das sind Faktoren für den harten wirtschaftlichen Erfolg", erklärt er. So geht es auch am Dienstag weiter bei einem Streifzug durch Chinatown und einem Viertel mit innovativen Projekten für den sozialen Wohnungsbau. Singapur fasziniert die deutschen Besucher: überall Sichtachsen von berauschender Schönheit der Kunst und Architektur.

Viele Bewohner pflegen die beste Mischung aus britischem Understatement und asiatischer Gastgeberkunst. Und – anders als in vielen Türmen der ähnlich wohlhabenden Emirate Abu Dhabi und Doha – brennt in Singapur auch am Abend noch Licht in den meisten Hochhausfenstern, hier ist Leben auf den Straßen.

Einfach mal ausprobieren

Und Singapur versteckt seine Armen nicht. Man trifft sie zum Beispiel auf den Garküchenmärkten, hier Hawker Center genannt, wo die Kochkunst einiger Gastwirte schon mit Sternen geadelt wurde. Viele führende Köpfe Berlins zeigen sich beeindruckt von dem Mut von Verwaltern und Unternehmern gleichermaßen. Hier wird einfach mal ausprobiert, Widerstand in der Bevölkerung ignoriert – beziehungsweise nicht zugelassen, dass er sich formuliert.

Da sind wir wieder beim Verkehr: Lange Staus gibt es praktisch nicht. Grund ist eine radikale Politik, die in Berlin so kaum durchsetzbar scheint: Singapur hat derzeit nur 460.000 Lizenzen zum Autofahren ausgegeben, zu Preisen von 40.000 bis 60.000 Singapur-Dollar (umgerechnet bis zu 40.000 Euro) für zehn Jahre. Dazu komme die Anschaffung eines Autos, auf das man 200 Prozent Importsteuer zahlt.

Wer nicht mindestens 60.000 Euro zahlt, fährt also nicht mal den kleinsten Kleinwagen durch Singapur – ganz zu schweigen von den umgerechnet fast zehn Euro, die man pro Stunde in Parkhäusern der Innenstadt zahlen müsse, rechnet ein Deutscher vor, der in Singapur lebt und mit Bus und Bahn fährt.

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