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Markus Söder (CSU), Ministerpräsident von Bayern, empfängt an der Schiffsanlegestelle Prien Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), um anschließend mit einem Schiff der Chiemsee-Schifffahrt auf die Insel Herrenchiemsee überzusetzen. Auf Herrenchiemsee findet in Beisein der Kanzlerin die bayerische Kabinettssitzung in der Spiegelgalerie des Neuen Schlosses statt.

© Peter Kneffel/dpa/Pool/dpa

Mehr Bayern wagen: „Berlin, meine Liebe, Du machst mir Angst!“

Nach Berlin kam ich der großen Freiheit wegen. Doch genau die ist in der Krise das Problem. Es braucht klare Regeln. Ja, das geht auch hier. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Ruth Ciesinger

Ich mag zwar kein Bier, aber diese kitschige Kinowerbung hat mir in Vor-Corona-Zeiten regelmäßig eine Gänsehaut verpasst: Berlin, du bist so wunderbar. Denn diese Stadt ist wunderbar. Sie wäre es nicht ohne die vielen verschiedenen, großartigen Menschen, die hier leben.

Sie betrachten Regeln allenfalls als Vorschläge und zelebrieren jeden Lebensentwurf in seiner Einzigartigkeit. Joggende Superpromis im Tiergarten beeindrucken sie genauso wenig wie der internationale Topvirologe, der ohne Krawatte auf dem Fahrrad zur Kanzlerin fährt.

Jeder soll nach seiner Fasson selig werden, das hat nicht von ungefähr der Alte Fritz gesagt und nicht Ludwig der Zweite. Deshalb war Berlin für mich, damals in der glänzenden Münchner Schmuckschatulle, ein Sehnsuchtsort und ist nun seit Jahren Heimat. Doch etwas ist jetzt anders. Berlin, meine Liebe, du machst mir Angst!

Das Improvisieren, das Freihändige, das Chaos sind auf einmal keine Verheißung mehr, sondern wirken bedrohlich. Die Freiräume, die so viel Kreativität ermöglicht haben, verdunkeln sich. Das Virus hat unser Leben, wie wir es kannten, beiseitegefegt. Die Gefahr, die es verbreitet, ist real. Deshalb möchte ich klare Regeln, möchte mich auf etwas verlassen können. Ich möchte ein wenig Sicherheit in all dem Ungewissen – und nicht jeden Tag darüber neu verhandeln müssen.

Und der Kellner schön mit der Maske unterm Kinn

Es ist kein Zeichen von entspannter Individualität, ohne Mund-Nasen-Schutz U-Bahn zu fahren. Ein Restaurant ist nicht deshalb hip und das Essen etwas Besonderes, weil die Kellner ihre Masken demonstrativ unterm Kinn tragen und niemand Kontaktdaten notiert.

Unsere Kinder werden nicht klüger, wenn per Anweisung von oben an Schulen wieder Regelbetrieb herrschen soll, aber keiner Hilfestellung leistet, damit das praktisch auch funktioniert. Wenn jemand irgendwann wieder richtig feiern möchte – warum lässt der sich jetzt im Park mit zig anderen volllaufen?

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Wenn für manche schon ein kleines Stück Stoff die Rücksicht auf andere unmöglich macht, dann beunruhigt mich das. Und wenn diejenigen, die in der Stadt klare Entscheidungen treffen könnten, es einfach nicht tun wollen.

Fast am meisten verstört mich allerdings, wie wohltuend jetzt zwei Wochen Urlaub in Bayern waren. Wo selbst der Kioskbesitzer am Badesee freundlich die Adressen seiner Gäste notiert, die Verkäufer im Supermarkt selbstverständlich und ausnahmslos Maske tragen, und sich derjenige, der seine Hände desinfiziert und Abstand hält, nicht dafür entschuldigen muss. Das ist der Vorteil, wenn sich alle an Regeln halten: Sie werden alltäglich.

Berlin, Du hast schon ganz anderes mitgemacht

Und jetzt? Zurück nach Bayern? Chiemsee und Schloss Herrenchiemsee sind wunderschön. Aber dass der Berliner Senat auf die Idee käme, wie das Bayerische Kabinett Anfang der Woche mal in einem absolutistischen Spiegelsaal zu tagen, ist schwer vorstellbar. Und das ist dann auf andere Art wohltuend.

Überhaupt, Markus Söder der Erste, dem jetzt so viele Kanzlerpotenzial bestätigen: Bevor der Ministerpräsident zum Corona-Retter wurde, hatte er Anfang März eher wenig für die Absage von Starkbierfesten getan. Die er inzwischen selbst als „Virenschleudern“ bezeichnet.

Was vorerst bleibt, ist die Erkenntnis: Alle sind gerade auf die ein oder andere Weise überfordert. Da freut sich jeder über Unterstützung. Deshalb meine Bitte an alle, die diese Stadt auch so wunderbar finden: Wenn jeder sich selbst ein wenig einschränkt, ist schon wieder viel möglich. Berlin, du hast schon ganz anderes mitgemacht, das bisschen Rücksicht schaffen wir jetzt auch.

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