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Juli 1997, ein unfassbarer Sommer. Matthias Platzeck, damals 43, neben Bundeskanzler Helmut Kohl und Bürgern am Oderbruch.

© Ralf Hirschberger/ZB/dpa

Matthias Platzeck über die Oderflut 1997: „Die Leute hatten Angst, schon wieder alles zu verlieren“

Matthias Platzeck war der Deichgraf: Hier erinnert er sich an die Oderflut vor 20 Jahren.

Von Sandra Dassler

Die Oderflut im Juli und August 1997 führte in Tschechien, Polen und Deutschland zu schweren Schäden; in den beiden Nachbarländern kamen mehr als 100 Menschen ums Leben. Auslöser waren anhaltende starke Regenfälle über Gebirgsregionen in Tschechien und Polen. Brandenburgs Landesumweltamt gab am 8. Juli 1997 die erste Hochwasserwarnung heraus, am 14. Juli wurde für vier Landkreise und die Stadt Frankfurt an der Oder die Hochwasserwarnstufe I ausgerufen. Am 17. Juli erreichte die Flut das Bundesland bei Ratzdorf am Zusammenfluss von Oder und Neiße. Am 23. Juli brach bei Brieskow-Finkenheerd der erste Deich in Brandenburg, die mehr als 5000 Hektar große Ziltendorfer Niederung wurde überflutet. Auch dem Oderbruch drohte die Überflutung, sie konnte jedoch knapp verhindert werden. Die Verteidigung der Deiche in der Region ging als „Wunder von Hohenwutzen“ in die Landesgeschichte ein. (epd)

Herr Platzeck, manche Menschen an der Oder stehen den Gedenkveranstaltungen 20 Jahre nach dem Hochwasser eher ablehnend gegenüber. Warum macht es Sinn, sich zu erinnern?

Weil es nicht nur um die Vergangenheit geht, sondern um die Gegenwart und Zukunft. Naturkatastrophen können immer wieder eintreten, denken Sie nur, ganz aktuell, an die Starkregenfälle in Berlin und im Umland. Da hielten sich – mal abgesehen von Leegebruch – die Folgen noch in Grenzen. Aber stellen Sie sich mal vor, so viel Regen wäre beispielsweise im Erzgebirge niedergegangen...

Kann man solche Ereignisse verhindern?

Nein. Es wird im Zeitalter des Klimawandels – und der ist ja inzwischen vielerorts spürbar – keinen hundertprozentigen Schutz vor Klimakatastrophen geben. Umso wichtiger ist, sich so gut es geht darauf einzustellen.

Ist das dem Land Brandenburg in Sachen Hochwasserschutz gelungen?

Wir sind heute deutlich besser aufgestellt als vor zwanzig Jahren. Die vielen Millionen Euro wurden gut angelegt. Das betrifft sowohl den Deichbau selbst als auch die Professionalität der Zusammenarbeit aller Verantwortlichen im Katastrophenfall. Die Krisenstäbe der Landkreise beispielsweise sind viel besser geschult und aufgestellt. Das haben sie auch bei den nachfolgenden Hochwassern von 2002, 2010 und 2013 bewiesen.

Also alles richtig gemacht?

Es gibt natürlich immer noch mehr zu tun. So haben wir zwar inzwischen weitaus mehr Präventions- beziehungsweise Rückhalteflächen in Brandenburg ausgewiesen und das Land Brandenburg hat bekanntermaßen Weiteres vor.

Erinnern Sie sich daran, dass Sie, als Sie 1997 gemeinsam mit dem damaligen Präsidenten des Landesumweltamts, Matthias Freude, die Menschen an der Oder das erste Mal vor dem Hochwasser warnten, als dahergelaufene, sprich: unerfahrene „Bürschchen“ bezeichnet wurden?

Daran kann ich mich sehr gut erinnern. Und ich habe sogar ein gewisses Verständnis dafür. Schließlich waren wir damals zwanzig Jahre jünger und gehörten einer relativ neuen Landesregierung an. Da war es wirklich nicht verwunderlich, dass ältere Menschen, die ihr ganzes Leben an der Oder verbracht hatten, sagten: „Nun macht mal halblang. Wir haben schon einige Hochwasser hier erlebt. So schlimm wird es schon nicht werden.“

Aber es wurde schlimm.

Ja, und deshalb bin ich auch heute noch froh darüber, dass wir angesichts der Schreckensmeldungen aus Polen und Tschechien und der steigenden Zahl der Toten dort schon zeitig die erste Hochwasserwarnung herausgegeben und unseren Einsatzstab an die Oder verlegt haben. Eine Woche später hat niemand mehr gesagt: „Macht mal halblang.“

Dafür blühte dann die Gerüchteküche: Erst waren es angeblich zu hohe Gräser, dann die Maulwürfe und am Ende sogar die Polen, die die Deiche kaputt machten. Fake news gab es jedenfalls damals schon.

Ja, das war schon irre. Es wurde ja sogar behauptet, wir hätten die Ziltendorfer Niederung geopfert. um Frankfurt und das Oderbruch zur retten... Aber es war ja auch eine Extremsituation. Die Nerven lagen blank. Da suchen Menschen nach Erklärungen.

Klingt da so etwas wie Verständnis mit?

Gerade viele Menschen in der Oderregion hatten schon einmal ihre Heimat verloren. Und sich oft nach der Wende gerade etwas Neues aufgebaut – die hatten Angst, alles noch einmal zu verlieren. Da waren viele im Ausnahmezustand.

Was kann Politik, was können Politiker in solchen Situationen tun?

Wir haben vor allem auf eine offensive Informationspolitik gesetzt. Das hieß einerseits, nichts zu verschweigen, zu verniedlichen oder zu beschönigen und andererseits nichts zu dramatisieren, also nicht noch unnötige zusätzliche Ängste auszulösen. Und wir haben uns bemüht, alle Verantwortlichen in ein Boot zu bekommen, auch die Bundeswehr.

...die ja eine ganz besondere Rolle spielte.

Ja, die Zusammenarbeit mit General Hans-Peter von Kirchbach, der ja mit zehntausend Soldaten sozusagen die größte Streitmacht im Kampf gegen das Hochwasser führte, war zum Beispiel sehr eng. Wir konnten uns bedingungslos aufeinander verlassen. Und das haben auch die betroffenen Menschen gespürt und uns eben auch vertraut. Sonst wäre die relativ reibungslose Evakuierung des Oderbruchs gar nicht möglich gewesen.

"Die Initialzündung für unser künftiges Katastrophenmanagement."

Gab es einen schönsten Moment?

Das war ganz zweifellos der, als wir diesen Menschen, die meistens in Turnhallen campierten, sagen konnten: „Die Gefahr ist gebannt. Ihr könnt zurück zu Haus und Hof.“ Gerade weil wir wussten, wie viel Herzblut und wie viel Tränen geflossen waren, als die Leute glaubten, dass sie all das nicht wiedersehen. Es war sehr bewegend.

Matthias Platzeck lebt seit seinem politischen Rückzug in der Uckermark.
Matthias Platzeck lebt seit seinem politischen Rückzug in der Uckermark.

© dpa

Und der traurigste Moment?

Das war ebenso zweifellos der Tag, als wir die Ziltendorfer Niederung verloren haben. Als wir die Wucht der Wassermassen spürten. Ich werde diese Szenen niemals vergessen. Hunderte Jahre alte Bäume, die vorher auf dem Deich standen, trieben senkrecht in den Fluten. Tiere verendeten – nicht alle waren rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden. Und zu diesem Zeitpunkt mussten wir ja noch davon ausgehen, dass uns ähnliche Szenarien in Frankfurt und im Oderbruch bevorstanden, dass wir dies alles noch einmal erleben mussten.

Ihr damaliger Weggefährte Matthias Freude nennt die Oderflut noch immer die „Mutter aller Hochwasser“. Stimmen Sie dem zu?

Ja. Zwar waren das Hochwasser 2002 an der Elbe und auch die nachfolgenden 2010 und 2013 an Oder, Elbe, Schwarzer Elster und Spree auch schwierig, aber 1997 war die Feuertaufe. Die Initialzündung für unser künftiges Katastrophenmanagement. Wir haben Strukturen, System und Kontakte – auch über die Grenzen hinweg – aufgebaut. Und wir hatten ja auch Erfolg. Das Wunder von Mühlberg zum Beispiel, wo im Jahr 2002 die Deiche hielten, wäre ohne das nicht möglich gewesen.

Sie sagen eingangs, dass es in Zeiten des Klimawandels keinen hundertprozentigen Schutz gegen Umweltkatastrophen gibt. Liegt das auch daran, dass das Bewusstsein dafür noch immer unentwickelt ist?

Ich würde das nicht so negativ sehen. Bei aller Selbstkritik hat sich unser Umweltbewusstsein doch stark weiterentwickelt, allein was Bauvorschriften und die Erhaltung von Lebensräumen anbelangt. Denken Sie nur an unsere Biosphärenreservate. Um den Nationalpark Unteres Odertal gab es fast noch körperliche Auseinandersetzungen. Den wollten Bauern und sogar ein ehemaliger Landwirtschaftsminister mit Traktoren verhindern. Heute schmückt sich Schwedt mit dem Beinamen „Stadt am Nationalpark“.

Andererseits hält sich die Lernfähigkeit des Menschen in Grenzen. Immer wieder werden in Hochwassergebieten Häuser gebaut – wenn nicht nach 20, dann doch nach 50 Jahren, in denen keine größeren Katastrophen geschehen sind.

Ja, der Mensch vergisst schnell. Wenn wir die Fähigkeit des Vergessens nicht hätten, würden wir auf dieser Welt verrückt werden. Und dennoch lernen wir auch dazu. Nehmen Sie nur das Beispiel der regenerativen Energien. Wenn es entsprechende Speichermöglichkeiten gäbe, könnte sich das Land Brandenburg schon heute weitgehend mit Strom aus Wind, Wasser und Sonne versorgen.

Noch einmal zurück zur Oderflut: Bei aller Dramatik, das Hochwasser hat Sie persönlich – auch durch die mediale Aufmerksamkeit – extrem populär gemacht.

Diese Außenwirkung habe ich in diesen drei, vier Wochen, ehrlich gesagt, überhaupt nicht mitbekommen. Das wurde mir später erst alles klar. In der Zeit an den Deichen haben wir jede Nacht nur drei, vier Stunden geschlafen, dann gab es die nächste Lagebesprechung und zwischendurch hatte man halt auch mal wieder ein Mikrofon vor der Nase.

Denken Sie manchmal darüber nach, dass Ihr Leben ohne das Oder-Hochwasser vielleicht anders verlaufen wäre?

Zufälle spielen in jedem Leben eine Rolle. Mein Leben wäre auch anders verlaufen, wenn ich im November 1989 nicht in der Nähe eines Telefons gewesen wäre und mich die Einladung zum Runden Tisch, an dem Vertreter der DDR-Opposition saßen, nicht erreicht hätte.

Matthias Platzeck, 63, SPD, war während der Oderflut Umweltminister in Brandenburg, anschließend Potsdamer Oberbürgermeister und von 2002 bis 2013 Ministerpräsident.

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