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Ein Rettungswagen der Berliner Feuerwehr auf Einsatzfahrt.

© imago/Frank Sorge

Update

Maßnahmen gegen Ausnahmezustand bei Berliner Feuerwehr: Zum Mückenstich ohne Beschwerden kommt kein Rettungswagen mehr

Fast täglich ist beim Rettungsdienst Ausnahmezustand. Hier lesen Sie die Liste der Fälle, die nun von der Kassenärztlichen Vereinigung übernommen werden sollen.

Wegen der Überlastung des Rettungsdienstes und des Dauerausnahmezustands bei der Berliner Feuerwehr sollen nun zu leichteren Fällen keine Rettungswagen mehr geschickt werden. In einer am Montag verschickten internen Mitteilung gibt das Notruf-Qualitätsmanagement der Leitstelle vor, wann kein Rettungswagen mehr losfahren muss. Es geht um Fälle, „in denen sich Personen nicht in einem lebensbedrohlichen Zustand befinden oder in einem Zustand, der keine schweren gesundheitlichen Schäden befürchten lässt“.

Das zweiseitige Schreiben, dass dem Tagesspiegel vorliegt, listet mehrere Fallkonstellationen auf, bei denen trotz eines 112-Notrufs nicht mehr der Rettungswagen kommen soll – sondern die Anrufer an die Kassenärztliche Vereinigung (KV) verwiesen werden.

Darunter ist auch die sogenannte allergische Reaktion ohne Atem- oder Schluckbeschwerden, unter diesem Code wird im Computersystem auch der etwas angeschwollene Mückenstich vermerkt. Bislang hatte das Abfragesystem der Feuerwehr vorgegeben, dass dann ein Rettungswagen mit Blaulicht losgeschickt werden muss.

Auch Feuerwehrchef Karsten Homrighausen hatte davon am vorigen Wochenende bei einem nächtlichen Besuch in der Leitstelle und zuvor bei einer Nachtschicht beim Rettungsdienst erfahren – und ist nun offenbar eingeschritten.

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Konkret drehen sich die Änderungen um ein System namens Snap – ein Standardisiertes Notruf-Abfrageprotokoll. Geht ein Notruf unter der Nummer 112 ein, gibt das System den Mitarbeitern der Leitstelle standardisierte Fragen vor.

Je nach den Antworten spuckt das System Codes aus, die vorgeben, wie vorgegangen werden muss – ob ein Rettungswagen mit Blaulicht oder nur ein Rettungswagen als Notfalltransport losfahren muss. Auch bei unspezifischen Bauchschmerzen – immerhin 9000 Einsätze im Jahr – werden die Retter losgeschickt.

Zu diesen Fällen kommt in Berlin jetzt kein Rettungswagen mehr:

  • Allergische Reaktion ohne Atem-/Schluckbeschwerden
  • Spinnenbiss
  • Geringfügige Verbrennung/Verbrühung (die offensichtlich harmlos ist und keinen Grund zur Besorgnis gibt)
  • Ungefährliche Blutung mit internistischer Ursache, nach Trauma, aber ohne Risikofaktoren wie Bluterkrankung, Blutverdünnern (Beispiele: schwache anale Blutung, Blutbeimengungen in Urin/Katheter (ohne Trauma), Bluthusten schwach, Finger, Fuß, Gesäß, Hand, Handgelenk, Knöchel, Kopfhaut, Mund (kein Erbrechen/Husten), Nase, Penis (äußerlich), Rücken, Unterarm, Unterschenkel, Zehe)
  • Atmet normal nach Aspiration von Fremdkörper, Nahrungsresten, Flüssigkeit
  • Geringfügige Augenverletzung (Abschürfung, kleiner Fremdkörper, Kontaktlinsen, Verblendung/Verblitzung/Schneeblindheit)
  • Verdacht auf Meningitis (Rettungswagen kommt bei Bewusstlosigkeit)

Der Personalrat und die Gewerkschaften hatten derlei Änderungen seit langem gefordert. Grund ist die Überlastung. Inzwischen fast täglich wird für den Rettungsdienst der Ausnahmezustand ausgerufen. In diesem Jahr ist die Lage eskaliert: 2020 war 64 Mal Ausnahmezustand, 2021 dann 178 Mal – diese Marke war 2022 schon zum Halbjahr erreicht.

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Ein Grund dafür sind auch zahlreiche Bagatellen, zu denen die Rettungswagen fahren müssen. Dann ist teilweise ist kein einziger freier Rettungswagen verfügbar.

Nach einer turbulenten Personalversammlung und Kritik an Feuerwehrchef Homrighausen hatte die Innenverwaltung den Druck auf die Feuerwehr-Leitung erhöht. Sowohl in der Feuerwehr als auch bei Innensenatorin Iris Spranger (SPD) ist das Problem nun Chefsache.

Feuerwehrchef Karsten Homrighausen bei einer Nachtschicht im Rettungsdienst.
Feuerwehrchef Karsten Homrighausen bei einer Nachtschicht im Rettungsdienst.

© Feuerwehr Berlin

Eine neue, vierköpfige Steuerungsgruppe der Innenverwaltung prüft die Details und soll binnen drei Monaten Vorschläge gegen die Dauerkrise erarbeiten. Daneben sollen die Einsatzcodes einer breiten Prüfung unterzogen werden.

Zudem will die Innenverwaltung die mächtige Position des Ärztlichen Leiters Stefan Poloczek beschneiden, dazu muss das Rettungsdienstgesetz geändert werden. Poloczek gilt als hartnäckigster Verfechter des Abfragesystems Snap. Die Zeit der Unantastbarkeit des Ärztlichen Leiters sei nun vorbei, hieß es bereits in der Innenverwaltung.

Stefan Poloczek, Ãrztlicher Leiter Rettungsdienst bei der Berliner Feuerwehr.
Stefan Poloczek, Ãrztlicher Leiter Rettungsdienst bei der Berliner Feuerwehr.

© Janina Wagner / BFW

Obwohl eine Task Force bereits seit September 2021 auf Weisung der Innenverwaltung Vorschläge erarbeitet hatte, stellte sich nicht nur Poloczek gegen weitreichende Änderungen, die zu einer Entspannung beim Rettungsdienst geführt hätten. Zahlreiche Vorschläge, die sogar bei Tests Erfolge zeigten, versickerten in der Verwaltung. Doch jetzt ist der Druck zu groß geworden, die Lage eskaliert.

Die Code-Prüfung ist ein übliches Vorgehen, doch eine dafür zuständige Arbeitsgruppe ließ sich nach Darstellung der Feuerwehr viel Zeit. Bereits die im September 2021 eingerichtete Task Force hatte darauf gepocht, den „etablierten Prozess der regelmäßigen Code-Anpassung deutlich zu intensivieren“. Lange geschah nichts. Das gestand die Feuerwehrführung am Dienstag sogar ein, ebenso, dass erst Durck nötig war. „Aufgrund der aktuellen Situation wurde dieser Prozess nun beschleunigt“, erklärte die Feuerwehr am Dienstag.

Und die Feuerwehr zitiert Poloczek nun mit Worten, die Einsatzkräfte bislang so nicht von ihm kannten: „Nicht für jede Person, die die 112 wählt, ist ein Rettungswagen die geeignete Hilfe."

Und Landesbranddirektor Homrighausen sagte: „Wir haben eine Vielzahl organisatorischer Maßnahmen innerhalb der Berliner Feuerwehr auf den Plan gerufen, um die Belastung zu reduzieren. Die aktuellen Anpassungen am Notrufprotokoll SNAP sind ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.“

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Die Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft Berlin-Brandenburg (DFeuG) begrüßte die Anpassung der Codes. „Das kann erst der Anfang sein, aber es ist ein guter Anfang“, sagte DFeuG-Sprecher Manuel Bart am Montag. Die Beharrlichkeit der Gewerkschaft in der Sache habe sich gelohnt.

Manuel Barth, Sprecher der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft Berlin-Brandenburg
Manuel Barth, Sprecher der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft Berlin-Brandenburg

© Alexander Fröhlich

Es seien die ersten Anpassungen im Protokollsystem „in Richtung eines anlassgerechten Rettungsdienstes“. Es gebe aber „noch haufenweise Codes, die man sich nochmal anschauen muss. Daher ist keine Zeit, sich auszuruhen.“ Zudem forderte Barth ein Netzwerk auch für Menschen, „die abseits der Notwendigkeit eines Rettungsdienstes berechtigte Sorgen haben und Hilfe benötigen, ohne die Notfallrettung zu überlasten“. Diesbezüglich gebe es noch viel zu tun.

Auch die Gewerkschaft der Polizei (GdP) äußerte sich. „Die Code-Anpassungen ergeben absolut Sinn, weil wir hier über sehr viele Fälle reden, die bisher mit einem RTW beschickt wurden, ohne dass dieser wirklich gebraucht wird“, sagte GdP-Sprecher Benjamin Jendro.

Es sei aber schade, dass es dafür erst eines „dauerhaften Ausnahmezustandes und eines faktischen Notstandes“ gebraucht habe. Es sei zu hoffen, dass die Kassenärztliche Vereinigung die steigende Anzahl an weitergeleiteten Fällen und Patienten auch übernehmen kann – „und am Ende weniger RTW der Berliner Feuerwehr zum Papierschnitt und eingerissenem Fußnagel fahren“.

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