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Berlin: Martha Lillich (Geb. 1923)

"Rau und ruppig bist du", schimpfte sie und blieb 40 Jahre bei ihm

"Bleib doch hier“, sagte Marthas Cousine. Hier, in Berlin? Mit 16? Sollte sie nicht zurück in ihr schlesisches Dorf? Würde man sie dort vermissen? Der Vater vielleicht, die Schwester bestimmt. Aber die Stiefmutter? Der Stiefmutter werde ich nicht fehlen, dachte Martha. Ihre Mutter war gestorben, vor Jahren schon. Irgendwann hatte der Vater eine neue Frau geheiratet, Kinder mit ihr bekommen. Und Martha fühlte sich fremd, verloren. Sie blieb in Berlin, für immer.

Eine Ausbildung hatte sie nicht. War acht Jahre zur Volksschule gegangen und hätte gern die Oberschule besucht, das Zeug dazu hatte sie, eine Streberin nannten sie die anderen, so tadellos schrieb sie das Sütterlin, so sicher konnte sie alle Nebenflüsse der Donau aufsagen. Aber Bücher und Hefte für die höheren Klassen kosteten zu viel. Sie begann, in einer Wirtschaft zu arbeiten, als Mädchen für alles, mit einem Zimmer unterm Dach.

In Berlin fand sie eine Anstellung in einem Tante-Emma-Laden im Süden Tegels, was hilfreich war, denn der Krieg hatte begonnen und die Lebensmittel wurden knapp. Dafür fielen Bomben auf die Stadt, immer mehr. Sie habe nur wenig von alldem mitbekommen, sagte sie später, Essen gab es ausreichend im Geschäft, die Bombardements fanden zumeist in der Ferne statt. Selten musste sie sich in ein Kellerloch unterhalb der Küche zwängen, einmal nur beobachtete sie vom Straßenrand aus eine Kolonne von KZ-Häftlingen.

Nach der Befreiung stand sie auf den Schuttbergen und räumte die Trümmer weg, verkaufte Fahrkarten bei der Straßenbahn, verdingte sich als Hausmädchen bei einer französischen Familie. Eines Tages kam ein Maler ins Haus. Während er die Wände strich, redeten sie ein wenig, über dies und das, verabredeten sich zu einem ersten Spaziergang, einem zweiten und immer so weiter. Und irgendwann stellte Martha fest, dass sie schwanger war. Eilig wurde das Aufgebot bestellt.

Kurt war zwölf Jahre älter als Martha. Zwei Jahre nur hatte er eine Schule besucht, las jedoch unentwegt, Politisches und Historisches, malte Ölbilder, zeichnete Karikaturen, klebte Collagen, schrieb Verse und sagte, was er dachte. Rau und ruppig bist du, starrköpfig, schimpfte sie und blieb dennoch 40 Jahre bei ihm. Denn sie war nicht minder starrköpfig.

Pessimistisch muss man ihre Lebenseinstellung nennen, sagt ihre Enkelin. Auf jede Bemerkung folgte dieses „aber“: „Der Kuchen ist gelungen, aber etwas weniger trocken hätte er schon sein können.“ Und ihre Neigung zur Verallgemeinerung, gerade bei politischen Dingen, wenngleich ihr Interesse an Politik kaum vorhanden war: „Aber alle, die ich kenne, sagen …“ Zumindest wussten alle, dass es ihr im Grunde gut ging, wenn sie Anlass zum Murren und Maulen fand.

Im Übrigen war sie auch eine richtige Großmutter. Eine, die die besten Apfeltaschen buk, die im Supermarkt Wundertüten kaufte, bei der man sich verkleiden durfte, mit Röcken und bunten Tüchern und kitschigem Schmuck, bei der man das Sandmännchen gucken konnte, die einen vom Musikunterricht oder Sport abholte, die Pullover und Schals und Socken strickte, deren Haarfarbe noch mit über 80 die aus Mädchenzeiten war, bei der es alle Tage nach Sonntagsbraten roch.

Und sie sang. Schon damals, beim Wandern durch die schlesische Landschaft. Später in Berlin, im Chor, mit ihrer schönen Sopranstimme, Lieder von Brahms, Haydn, Mozart, Swingstücke und Geistliche Gesänge.

Nach und nach zeigte sich das Alter, zuerst nur an den Augen, an den Handgelenken, an der Hüfte, dann an den Lücken im Gedächtnis.

Am Ende lag sie nur noch. „Wie geht es dir?“, fragte ihre Enkelin. „Ach“, sagte Martha, „mir geht es gut.“ Kein Murren, kein Maulen. Und alle wussten, dass es ihr jetzt schlecht ging, dass sie nicht mehr wollte. Tatjana Wulfert

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