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Berlin: Martha Fleischhammel (Geb. 1909)

„Das gab’s alles schon, das geht auch wieder vorbei“

Sie legte die Perlenkette an, strich eine silberne Locke aus dem Gesicht und trat aus der Kabine hinaus auf den schmalen Gang, in dem schon ihr Enkel stand. „Aber wir verspielen nicht mehr als 50 Mark“, sagte sie, und Jakob bot ihr seinen Arm an und nickte. „Ja, Martha, höchstens 50.“ Zuerst setzten sie sich in den Speisesaal des Kreuzfahrtschiffes, das nach Oslo fuhr, aßen einen Happen und machten sich dann auf den Weg zum Casino. Aber sie waren zu früh. Die Croupiersdame ließ sie dennoch herein, während sie dachte, das erkannte Martha zweifelsfrei an der Art, wie sie ihren Mund mühsam zu einem Lächeln bog: „Die Oma zieh’ ich über den Tisch.“ Martha war sogar Uroma, über 90 Jahre war sie alt – aber von dieser Ziege würde sie sich nicht an der Nase herumführen lassen, das wäre ja noch schöner, ein Leben lang hatte nichts und niemand sie kleingekriegt.

Sie nahm Platz am Roulettetisch und setzte 30 Mark auf die Zwölf. Die Kugel rollte. „Rien ne va plus“, zirpte die Ziege, die Kugel stolperte – und fiel in die Zwölf. 35 mal 30 rechnete Martha rasch, stapelte die Jetons zu drei Türmen: einen zum Weiterspielen, einen für den Champagner danach, einen für die Reisekosten.

Einige Jahre lang hatte sie Kühn geheißen wie ihr erster Mann. Damals, als sie noch jung war und auf keinen Fall mit einem der Tölpel aus ihrem schlesischen Dorf zum Tanz gehen wollte, kamen die Kühn-Brüder herüber aus der Stadt, und sie verliebte sich in einen von ihnen, ging mit ihm und 10 000 Reichsmark ihres Vaters in der Tasche nach Golm, wo sie eine Gärtnerei gründeten und Blumenkohl auf einer riesigen Ackerfläche anbauten. Aber es regnete nicht. Die Pflanzen verdorrten, die Ehe auch. Ihr Vater kam aus dem schlesischen Dorf und holte sein Kind, das unterdessen selbst eines in sich trug.

Dem Namen des zweiten Ehemannes – Martha war inzwischen nach Berlin gegangen, arbeitete als Sekretärin und hatte noch mal geheiratet – fehlte dagegen jeder Liebreiz. Auf verblüffende Weise fielen der Name und das Wesen von Erwin Fleischhammel zusammen. Er schlug, er schnauzte, er schickte die Kinder zum Sammeln von Zigarettenkippen, die die amerikanischen Soldaten halb geraucht auf den Boden geworfen hatten. Aber anderen Kindern ging es nicht anders, hatten ihre Väter doch auch töten müssen in diesem Krieg, hatten Bilder in ihren Köpfen, die auf keinen Fall heraus sollten, und ein bisschen Härte, sagten die Leute, schadet doch nie.

Martha indes durfte den Amerikanern das Essen servieren, die aber dahinterkamen, dass Erwin Fleischhammel Kommunist war und sie entließen: Wer weiß schon, was die Frauen dieses roten Gesindels im Schilde führten. Sie fand Arbeit bei Siemens am Band, das machte ihr nichts aus, die Wirtschaftswunderjahre munterten die Menschen jetzt auf. Sie kauften sich ein Auto, fuhren im Segelboot über den Wannsee, buchten Reisen in warme Länder, aus denen sie bunte Postkarten an die Verwandtschaft schickten. Nur Annette, die Tochter, konnte in der aufblühenden Konsumgesellschaft keine Freude finden. Sie hörte noch immer das Dröhnen der Bomber und die Höllengeräusche der Einschläge, malte düstere Bilder, las Dostojewski und gab dann auf, mit 18, als auch die Liebe zur Qual wurde. Martha fand sie, hatte das Gas schon unten im Hausflur gerochen, war die Treppen hinaufgerannt, hatte die Tür aufgerissen, zu spät.

Einige Jahre später starb Erwin Fleischhammel.

Zum zweiten Mal stand sie jetzt vor einem Grab auf dem Dahlemer Waldfriedhof, aber das Leben hörte nicht auf. Sie ging tanzen und ins Kino, fuhr in einem violetten Mantel und mit einem flotten Hut auf dem Kopf rüber in den Osten, wo ihr Sohn lebte, kaufte ihren Enkeln Rolling-Stones-Platten und Jeans und setzte eine Annonce in die Zeitung.

Ein Fleischer, das Schicksal war offensichtlich zu Späßen aufgelegt, meldete sich. Er rauchte Kette, er trank, er hatte einen Haufen Schulden und war 20 Jahre jünger als Martha, was aber niemandem auffiel. Sie kümmerte sich emsig um alles, plante die Urlaube, brachte seine Papiere in Ordnung, manövrierte ihn aus seinen Schuldenscherereien und rationierte den Alkohol, während er folgsam hinter ihr her schlurfte. Als er Krebs bekam, umsorgte sie ihn, und er wurde tatsächlich wieder gesund, trank und rauchte lebhaft weiter und starb einige Jahre später daran. Zum dritten Mal lief Martha auf den Waldfriedhof in Dahlem.

Und noch lagen 20 Jahre vor ihr. Sie flog, allein nun, nach Spanien und Portugal. Sie wurde Uroma. Sie lud die Familie ins Restaurant ein. Sie buk jedes Jahr zu Weihnachten schlesische Mohnklöße. Sie wurde krank und wieder gesund. Sie behielt ihren glasklaren Verstand. Sie saß in ihrem Sessel und hörte ihren Enkeln und Urenkeln zu, wenn sie von neuen Lieben und gebrochenen Herzen erzählten und sagte: „Das gab’s alles schon, das geht auch wieder vorbei.“

Am 14. Februar, mit 103 Jahren, drei Monate vor ihrem 104. Geburtstag, ist Martha gestorben. Ihr Grab liegt in Dahlem auf dem Waldfriedhof. Tatjana Wulfert

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