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Berlin: Markus Maier (Geb. 1972)

Unverschämt ist er und macht makabre Witze. Das ist er, freuten sich die Freunde

Die „Bar 11“ in Kreuzberg an der Wiener Straße, gleich neben dem „Madonna“: Zu essen gibt es nichts, zu trinken gibt es alles. Es wird geraucht und riecht nicht nur nach Marlboro. Man ist schnell per Du, man kennt sich. Am Tresen sitzt ein Mann mit Augenklappe. Viele hier kennen ihn. Manche kennen ihn aus besseren Tagen. Da stand er hinterm Tresen und regierte das Geschehen, unmerklich meist, wenn nötig auch mit kräftiger Hand. Sein Händedruck war gefürchtet. Viele haben versucht, ihn im Armdrücken zu besiegen, geschafft hat es niemand. An den Rocker können sie sich erinnern, der Markus herausgefordert hat. Er war größer, sah viel kräftiger aus als Markus, und auch er musste eine Niederlage einstecken. Es sei nur die Technik, vermutete er und legte einen Schein auf den Tresen. Noch einmal! Wieder nicht. Noch ein Schein. Alle Gäste hatten sich inzwischen um den Tisch versammelt, wie im Western, Totenstille in der ganzen Kneipe. Doch der Recke musste geschlagen abziehen, und Markus hatte einen Ruf weg, der es ihm künftig leichter machte, Konflikte zu lösen.

Bei den Mädels kam er gut an, von den Jungs wurde er respektiert, mit sich war er im Reinen. Seine Wohnung über der Kneipe war Treffpunkt und Ruhepol für den engeren Freundeskreis. Ein wenig auch Therapieraum für Gespräche, die man nicht am Tresen führen wollte. Manche fanden, dass Markus ein weiser Mann sei, bei dem man sich gut Rat holen konnte.

Dass er in der Gastronomie gelandet war, hatte niemanden mehr verblüfft als die eigene Familie, obwohl seine Großeltern ein Speiselokal betrieben. Die Großmutter erinnert sich, wie sich der schüchterne Junge durchs Lokal schlich, um bloß nicht gesehen zu werden. Er fühlte sich irgendwie falsch zwischen den Gästen. Als er die Ausbildung zum Bauschlosser absolvierte, war das auch nicht seine Welt. Er zog dann von Konstanz zu Verwandten nach Berlin.

Da fand er schließlich seinen Platz hinterm Tresen, der zu seinem Podium wurde. Er war glücklich, und die Familie war es nach einer ersten Verwunderung auch. Markus war angekommen, man musste sich nicht mehr um ihn sorgen, alles war gut.

Bis zum 30. Juni 2003. Um Einkäufe für die Bar zu machen, fuhr Markus am „Travolta“ vorbei, Ecke Lausitzer Straße, und er sah, wie ein Mann auf eine junge Frau schoss, er hielt an und schrie: „Hör auf! Warum schießt du?“ Da feuerte der Mann zwei Schüsse auf ihn ab. Markus stürzte zu Boden, der Schütze kam näher und schoss eine dritte Kugel in seinen Kopf.

Man hatte Markus bereits abgedeckt, als der Notarzt feststellte, dass doch noch Leben in ihm war. Nach mehrwöchigem Koma erwachte Markus und erwies sich als erstaunlich präsent. Doch war das noch der alte Markus? Das fragten sich die Ärzte und sie fragten Freunde, die zu Besuch kamen. „Wie ist er denn drauf?“, wollten die Freunde wissen. „Erstaunlich unverschämt, er beschwert sich, er macht makabere Witze und verhält sich ziemlich unkooperativ.“ Das ist er, freuten sich die Freunde.

Tatsächlich hat Markus die ersten drei Jahre nach dem Attentat erstaunlich gut bewältigt. Er hatte durch den Kopfschuss ein Auge verloren, und auch die anderen beiden Kugeln hatten Spuren hinterlassen. Aber mit den Schmerzmitteln konnte er ein einigermaßen normales Leben führen. Die Freunde hielten zu ihm, die Familie bot Hilfe an, wo immer sie gebraucht wurde, und auch sonst gab es viele Menschen, die alles dafür taten, sein Schicksal so erträglich wie möglich zu gestalten.

Doch dann kam der Einbruch, der viele hilflos machte. Markus zog sich zurück, verließ die Wohnung kaum noch, litt unter Depressionen. Posttraumatische Belastungsstörung, die Diagnose war einfach, die Therapie gestaltete sich schwierig. Nichts war Markus so wichtig wie seine Autonomie, nichts war ihm so lästig wie Hilfsangebote, die ihn irgendwie abhängig machen. Er selbst verordnete sich eine Doppeltherapie: starke Schmerzmittel und eine gehörige Portion Alkohol. Er wurde 45 Jahren alt.

Jörg Machel

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