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Berlin: Marianne Struthoff (Geb. 1927)

"Kann doch nicht wahr sein, du kommst ins Hotel Adlon!"

Im Friseursalon werden Arme und Beine amputiert. Die Gliedmaßen kommen in den Innenhof, wo auch die Toten liegen. In den Bunker haben sich ein paar Reichsbankdirektoren verkrochen, außerdem Hitlers Leibarzt. Ihm servieren Ober im Frack Essen aus der Feldküche. In der Eingangshalle Strohsäcke, Feldbetten, Matratzen, darauf kauern Soldaten der unteren Ränge, gehüllt in Wehrmachtsdecken. An der Bar die Offiziere. Manche hoffen auf Hilfe, manche auf den Tod. Tageslicht kommt kaum herein, die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Die Schmerzschreie werden lauter, seit das Morphium knapp geworden ist.

Mittendrin Marianne Struthoff, 17 Jahre alt, Schwesternschülerin, Führerin beim Bund Deutscher Mädel, beste Handelsschülerin des Gaus. Sie trägt ein weißes Schwesternhäubchen und eine blutverschmierte BDM-Skihose. Sie ist gerade angekommen und weiß kaum, wo ihr der Kopf steht. Als sie den Verbandstisch aufräumt, sieht sie kurz hoch zum prächtigen Kronleuchter über der Treppe. „Da wusste ich, wo ich bin.“

Es ist April 1945. Die Russen erobern Berlin. Die Amerikaner stehen vor Magdeburg. Marianne Struthoff steht im Hauptverbandsplatz der deutschen Wehrmacht, Unter den Linden 1, Hotel Adlon.

„Adlon, hab ich gedacht, kann doch nicht wahr sein, du kommst ins Hotel Adlon! Da konntest du dir früher nicht mal einen Kaffee leisten oder eine Limonade.“

Sie geht in den ersten Stock und sieht die großen Badezimmer, überall gefliest! „Wir hatten zu Hause gar kein Badezimmer. Da war auch noch Wasser in der Wanne, das hat mir doch ungeheuer imponiert.“

28. April: Ein Offizier des Führerhauptquartiers stellt sich auf die Freitreppe und verkündet: „Kameraden, ich überbringe euch die Grüße des obersten Befehlshabers der deutschen Wehrmacht, unseres Führers Adolf Hitler. Der Endsieg wird unser sein, die Entsatzarmee Wenk ist nur noch fünf Stunden von Berlin entfernt.“

Jemand stimmt „Die Freiheit ist unser“ an. Marianne Struthoff, genannt Schwester Mary, singt mit. Singt gegen die Angst. Vor Tieffliegern, vor der heranrückenden Artillerie, vor der Niederlage. Zwei Tage später erschießt sich Hitler. Danach kapituliert Berlin. Die Russen holen, was ihnen wertvoll scheint. Dann geht das Hotel Adlon in Flammen auf.

Marianne Struthoff war sechs, als die Nationalsozialisten die Regierung übernahmen, und 17, als der Krieg verloren war. „Ich war BDM-Führerin. Ich gehöre zu den wenigen, die heute noch bekennen, dass sie es mal waren, die anderen haben ja nur den Arm gehoben.“ Sie sei fasziniert gewesen von dem völkischen Brimborium. „Dumme Hühner waren wir.“

Aber lernfähig: Marianne Struthoff wird später Geschäftsführerin des Landesjugendrings Berlin, sie unternimmt viele Begegnungsreisen mit Jugendlichen. Sie heiratet den Bremer Journalisten Albert Struthoff, der ihr Kind aus erster Ehe adoptiert und einen Sohn mit ihr bekommt. Sie reisen viel, meistens mit dem Campingwagen, besonders gern nach Schweden.

53 Jahre später, zu ihrem 70. Geburtstag, schenkt ihr jemand eine Übernachtung im neu eröffneten Adlon. Dort, wo sie sich früher nicht mal eine Limonade leisten konnte. „Ich habe mit 17 die letzten Tage des alten Adlon erfahren und erlebe nun mit 70 die ersten des neuen.“ Andreas Unger

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