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Berlin: Marianne Lindemann (Geb. 1936)

Katholikin, Oberin und „Schwulenmutter par excellence“

Er stand gerade in dem Laden eines kleinen Winterferien-Ortes, als er eine wohlvertraute Stimme „100 Gramm Schinken“ sagen hörte.

Kein Zweifel, das war Marianne Lindemann, die Oberin jener katholischen Krankenpflege-Schule, an der er, Karl- Heinz, einst gelernt hatte.

Blutjung war er damals, neu in Berlin, hatte mitgemacht bei einer „Stern“-Reportage: „Ich bin schwul!“ Sein Outing Anfang der siebziger Jahre. Mit klopfendem Herzen hatte er am Tag der Veröffentlichung das Schulgebäude betreten, voller Sorge, dass man ihn hinauswerfen würde. Die Zeitschrift lag aufgeschlagen auf seinem Platz, rings um ihn undefinierbares Schweigen.

In der Pause dann eine Hand auf seiner Schulter, ein kurzes, anerkennendes Klopfen. Es war die Hand der Schuloberin. Und er verstand: Sie würde ihn schützen. „100 Gramm Schinken,“ sagte sie jetzt. „Frau Lindemann?“ Nach diesen Ferien war sie für ihn Marianne.

Ihre Unerschrockenheit hatte sie in den Straßen des Wedding gelernt. Seit ihre Eltern an Tuberkulose gestorben waren, lebte Marianne dort bei ihrer Großmutter, kein eigenes Bett, wenig zu essen. Ihr liebstes Kinderspiel hieß „Beerdigung“, denn Menschen zu beerdigen schien auch das liebste Spiel der Erwachsenen zu sein.

Als sie größer und hungriger wurde, lernte sie etwas Neues: Beziehungen aufbauen zu denen, die Essen haben. Zum Beispiel, indem man den Besatzungssoldaten mehr als schöne Augen macht.

Die Großmutter, alt aber nicht blind, übergab Mariannes Erziehung kurzentschlossen der katholischen Kirche. Ein Akt, der das Maß ihrer Hilflosigkeit aufzeigte: Die alte Dame selbst war eher unreligiös und obendrein evangelisch.

„Ich hatte zwei Möglichkeiten: Ein leichtes Mädchen werden oder in der katholischen Kirche mitzuarbeiten“, pflegte Marianne ihr Leben an dieser Stelle zusammenzufassen.

An ihr brauchte kein Katholik Überzeugungsarbeit zu leisten: Endlich ein Ort, an dem sie ihrer überschießenden Kraft eine Richtung geben konnte. Kranke pflegen, Alten helfen, Kindergruppen leiten, das gefiel ihr. Kerzen, Gottesdienste, Innerlichkeit lagen ihr weniger.

Vielleicht, so überlegte Karl-Heinz manchmal, hatte Marianne ihre Namensstifterin Maria zum Vorbild. Doch war diese bei ihr keine zarte Jungfrau, sondern eine burschikose, berlinernde Schwester, mütterlich aber nie hausmütterlich. Die als Oberin der katholischen Pflegeschule über Hunderte von Schülern wachte, aber nie eigene Kindern bekam und dies auch nie bedauerte.

Respekteinflößend, direkt, zum Jähzorn neigend, aber gerecht, so erlebten sie die Schüler. Mit den Krankenhäusern stritt sie um jede Stunde, die die Auszubildenden in der Schule statt im Arbeitseinsatz verbringen durften. „Legt euch in die Betten, lernt, das Pflegepersonal aus Patienten-Augen zu sehen“, verlangte sie dann. Den Menschen bilden, damit er im anderen den Menschen erkennt.

Wie das geht, demonstrierte sie auch außerhalb der Schule. Nicht lange nach dem Wiedertreffen erkrankte Karl-Heinz an Aids. Es war noch wenig bekannt über das Virus. Drei Monate lag er im Krankenhaus, ohne dass ihm jemand das Laken wechselte, und wer sich ihm näherte, trug astronautenartige Schutzkleidung. Die Einzige, die Ringelsocken strickend – bloß nicht untätig sein! – an seiner Bettkante saß, ungeschützt drauflos berlinernd wie immer, war Marianne.

Je mehr sie sich mit der Krankheit beschäftigte, umso entschiedener trat sie auf als Schutzpatronin der Erkrankten. Marianne, die jedem das rote Schleifchen zu verkaufen suchte, die auf schwul-lesbischen Straßenfesten Kuchen verkaufte, die in der Schwulenberatung half, die sich mit dem Verein „Denk mal positiv“ gegen anonyme Bestattungen HIV-Erkrankter engagierte, Geld für Grabstätten sammelte und wöchentlich zum Gießen kam.

„Marianne“, so resümiert Karl-Heinz, „war die Schwulenmutter par excellence.“ Vielleicht auch deshalb, weil sie mit ihnen dieselbe Vorliebe teilte, Männer. Am liebsten für solche, die ganz anders waren als sie selbst: schlank, feingeistig, elegisch.

Am Ende fiel die Wahl dann doch auf den geerdeten Peter. Obwohl irgendwann verheiratet, blieb es dabei: Sie wohnten getrennt, hatten zwei, drei Verabredungen die Woche. Den Rest ihrer Zeit verbrachte Marianne mit Freunden und Freundinnen, Ämtern und Ehrenämtern, mit dem Stricken der Ringelsocken und dem Lesen möglichst blutrünstiger Krimis.

Weil die Verhältnisse klarer nicht sein konnten, gab es nichts auszukämpfen zwischen den beiden, hörte niemand sie je über „Peterchen“ klagen, nie sah man sie respektlos oder angespannt im Umgang.

Nach Peters Tod pflegte Marianne das Weihnachtsfest mit Karl-Heinz und dessen Ehemann an der Ostsee zu feiern. So sollte es auch dieses Mal sein. Ihr Zimmer war gebucht, sie wollte nur noch einmal zum Arzt wegen ihrer Probleme beim Laufen.  „Ich habe Krebs überall, nur nicht am kleinen Zeh!“ Das war die Begrüßung, als Karl-Heinz sie dann im Krankenhaus besuchte.

Ihr Sterben dauerte drei Wochen, verlief ohne Schmerzen, und immer saß jemand bei ihr, so, wie sie es sich gewünscht hatte.

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