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Berlin: Marianna Bleick (Geb. 1930)

Wie auf einer Bühne standen ihre selbstbewussten Kundinnen in Unterwäsche da

Da läuft ein Hund durch die Werkstatt, ich geh’ da nicht mehr hin!“ Marianne sah sich schon Gassi gehen statt an der Nähmaschine sitzen. Ihr Vater war außer sich, nach dem Krieg war ein Ausbildungsplatz Gold wert, zumal einer im Wunschberuf der Tochter, Schneiderin. Aber er bewunderte seine Jüngste für ihren Eigensinn viel zu sehr, um sie aufzuhalten. Geboren wurde sie auf den Tag genau ein Jahr nach ihrer Schwester Gisela, der Vater arbeitete als Vermessungstechniker, und Marianne war überzeugt, dass er die Geburtsdaten präzise berechnet hatte.

Berlin in den fünfziger Jahren war noch nicht Mauerstadt, sondern Modestadt. Es gab 60 000 Beschäftigte in der Modebranche, Näherinnen, Knopfmacher, Stoffhändler und Gürtelschnallenhersteller, viele davon am Hausvogteiplatz im östlichen Zentrum. Am Kudamm im Westen kleideten Modeschöpfer in ihren Ateliers und Salons Stars wie Hildegard Knef und Romy Schneider ein, später gingen die Modelle für die normale Kaufhauskundin in Serie. Heute heißt die Berliner Modemesse „Bread & Butter“ damals hieß sie „Berliner Durchreise“. Man sprach vom „Berliner Chic“.

Marianne, das Mädchen aus Neukölln, machte in Charlottenburg ihren Weg. Als Directrice, heute würde man Designerin sagen, arbeitete sie in den großen Häusern rund um den Kurfürstendamm. Sie wurde nach Florenz, Paris und Rom geschickt, um herauszufinden, was man aus der Haute Couture für die Mode von der Stange übernehmen könnte. Es war nicht so sehr der Luxus, den Marianne genoss – vor allem faszinierte sie der Stil und der Schönheitssinn jener Jahre.

Doch der Mauerbau beendete jäh die kurze Karriere Berlins als Stadt des guten Geschmacks. Wenn Marianne Jahrzehnte später in den bunten Zeitschriften die lokale Prominenz betrachtete, fragte sie: „Wer hat sich denn früher mit seinem Friseur fotografieren lassen?“

1968 wurde aus dem schwangeren Fräulein Marianne Martha Margarethe Gustmann Frau Marianna Bleick. Der neue Nachname kam von ihrem Mann, einem angehenden Richter, den Vornamen schenkte ihr der Standesbeamte: Bei der Zeremonie nannte er sie „Marianna“, sie fand den Namen modern, ganz und gar passend, und behielt ihn gleich an.

„Marianna“, so lautete dann auch der Schriftzug über einem neuen Miederwarengeschäft in der Reichsstraße in Westend. Seit jeher gab es derlei Fachhandlungen in der Stadt, die in jeder Hinsicht Diskretion ausstrahlten: blickdicht die Fenster, blickdicht die Wäsche. In solchen Schutzräumen der Weiblichkeit mit Vorhängen an den Türen kaufte die traditionelle Frau ihre hautfarbenen Langhosen und Bustiers, die in Kartons und Schubladen verborgen waren. Bei Marianna war das anders. Von der Straße aus konnte man in den Verkaufsraum blicken, die Unterwäsche im Schaufenster war mal verspielt, mal exotisch wie etwa der BH, dessen Körbchen von bunten Pfauen gehalten wurden. Die Inneneinrichtung hatte ein Bühnenbildner von der Deutschen Oper entworfen. Von den Umkleidekabinen links und rechts hatte die selbstbewusste Kundin eine kleine Stufe zu nehmen und stand wie auf einer Bühne.

Über das Leben, das Marianna Bleick neben und nach ihrer Berufstätigkeit führte, sind nur Fragmente zu erfahren. Hier hatte die sonst so Moderne einen ganz altmodischen Sinn fürs Private. Mit Anfang sechzig verkaufte sie ihr Geschäft, das sie schon länger mit ihrer Schwester gemeinsam geführt hatte. „Die Leute sollen nicht sagen, sie gehen zu den alten Frauen Unterwäsche kaufen.“ Sie genoss in den folgenden Jahren das Leben, man sah sie im KaDeWe und mittags gelegentlich im Restaurant Borchardt zwischen Friedrichstrasse und Gendarmenmarkt. Die Reisen nach Israel und New York bedeuteten ihr viel, sie studierte Kunstgeschichte an der Freien Universität, und es soll zwischen ihr und ihrem Professor ein Funke übergesprungen sein.

Fünf Ordner mit Dokumenten hinterließ Marianna Bleick ihrem Sohn, Bankunterlagen, Versicherungspolicen, Geburts- und Heiratsurkunden, akkurat geordnet und abgeheftet. Alles andere, Briefe, Postkarten oder persönliche Notizen, die hätten erzählen können von ihrem reichen West-Berliner Leben, ihren Begegnungen und Gedanken, hatte sie entfernt. Marianna Bleick ging mit 83 Jahren, wie sie gelebt hatte, mit Würde, Stolz und sehr aufgeräumt.

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