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Berlin: Margrit Meffert (Geb. 1938)

Mit fester Stimme erklärte sie: „Ich fasse keine Nadel an!“

Die Eiserne Lunge war eine monströse Maschine. Sie sah aus wie ein stählerner Sarg, der Aufenthalt in ihr war eine Tortur. Eine lebensrettende Tortur für Menschen mit Atemlähmungen. Heute ist sie fast in Vergessenheit geraten, ebenso wie die Krankheit, die sie lindern konnte – Polio, Kinderlähmung.

Margrit Meffert war 18 Jahre alt, als sie in dem Apparat lag und Lieder sang. Sie sang an, gegen die Angst, gegen die Wut, gegen das „Warum ich“. Die Ärzte hörten den Gesang nicht gerne, Schonung war oberstes Gebot für den geschwächten Körper, aber Margrit spürte: Singen stärkte die Hoffnung.

Das Mädchen aus Tempelhof, das wenige Jahre zuvor ihrem aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Vater von der obersten Treppenstufe in die Arme gesprungen war, hatte gerade noch eine sehr genaue Vorstellung von der Zukunft gehabt. Kinderkrankenschwester wollte sie werden, eine große Reise nach Florida zu ihrem geliebten Onkel Erich wollte sie unternehmen, und, was sie vor allem wollte: eine eigene Familie, so wie ihre Großmutter Auguste mit vier Söhnen, mindestens.

Stattdessen begann eine Odyssee durch Kliniken und Therapieeinrichtungen. „Ich verschweige nicht die schweren, tränenreichen Stunden mit den Therapeuten, die Lähmungen bildeten sich nicht zurück wie gewünscht, erhofft, erwartet. Ich lernte nicht laufen, und die Arme blieben zum Teil gelähmt.“ Nach zwei Jahren erklärte ein Amtsarzt Margrit für „therapieunfähig“. Das war ein Schlag, die offizielle Bescheinigung der Ausweglosigkeit. „Ja, wirklich wollte ich für ein paar Stunden aufgeben.“

Dem Hospital am „Kleinen Wannsee“ war eine Nähstube angegliedert, in der für die „gehobene Klasse“ feine Wäsche gefertigt wurde. Dorthin sollte sie versetzt werden. „Ich war gekränkt, traurig, ja wütend – daraus wuchsen neue Kräfte.“ Sie hatte von der lettischen Schriftstellerin Zenta Maurin gehört, der ersten Frau mit einer Polio-Erkrankung, die im Rollstuhl studierte und Margrits großes Vorbild wurde. Sie erklärte mit fester Stimme „Ich fasse keine Nadel an!“

Mit ihrem Mut und der Hilfe der Kommilitonen, die den Rollstuhl treppauf und treppab trugen, begann sie, Theologie zu studieren. Sie konnte jetzt wieder bei ihren Eltern wohnen, die Mutter übernahm die Pflege: „Meine kleine Mama war einfach spitze.“ Margrit lernte nicht nur, ihre Behinderung mit Charme und Würde zu ertragen, sondern auch manch hilflose Reaktion darauf. Wenn sie Freunde zum Geburtstag einlud, fragte sie im Restaurant mit strahlendem Gesicht: „Habe ich nicht wieder gut gekocht?“

Eigentlich hatte die Ausbildung zur Seelsorgerin schon begonnen, als sie selbst am hilflosesten war: In den langen, schlaflosen Nächten in der Eisernen Lunge sammelte sie Menschengeschichten, führte lange Gespräche mit den Pflegern und Mitpatienten, fragte nach, hörte zu und fühlte sich ein.

Über 40 Jahre führte Margrit Meffert ein Doppelleben im besten Sinne. In Berlin lebte und arbeitete sie im Oskar-Helene-Heim und im Rittberg-Krankenhaus, später im Lothar-Kreyssing-Haus im Kloster Lehnin. Sie hielt Gottesdienste, Andachten und Aussegnungen – und war selbst eine Pflegebedürftige. In ihrem Rollstuhl war sie Pastorin und Seelsorgerin auf Augenhöhe mit den Kranken, sie war eine von ihnen. Gleichzeitig konnte sie sich mit besonderer Autorität für die Anliegen des Personals einsetzen, dessen Arbeitsbedingungen durch die Ökonomisierung des Gesundheitswesens immer härter wurden.

Der Pfarrer, der sie konfirmiert hatte, besuchte die junge Margrit einige Wochen, nachdem sie an Polio erkrankt war. „Margrit, versprich mir bitte, höre nie auf, an Gott zu glauben.“ Sie sagte später dazu: „Ich gehe mit ihm ins Gespräch, ich bin auch unzufrieden und oftmals tief traurig, aber er fängt mich immer wieder auf. Gott schenkte mir einen tiefen Glauben, der mich trägt.“ Den konnte die Pastorin Margrit Meffert weitergeben, und als sie mit 74 Jahren gestorben war, sagte ein Freund: „Aus dem Riesenunglück ihres Lebens ist ein Riesensegen geworden.“ Sebastian Rattunde

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