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Berlin: Margarete Honke (Geb. 1924)

"Was wir haben, ist das Größte"

Manche nennen es Mut, wenn ein Mann möglichst schnell im Kreis fährt. Oder eine Frau einen gefährlich hohen Berg hinaufklettert und wieder hinunter. Margarete Honkes Mut war von anderer Art.

Sie waren drauf und dran an Bord der Wilhelm Gustloff zu gehen und zögerten dann doch, weil sie auf Nachrichten vom Vater warteten, der in Kriegsgefangenschaft geraten war. 9000 Menschen starben bei dem Untergang des Schiffes.

Margaretes Familie harrte noch aus, in Bankau bei Danzig, wo sie auf einem Gutshof ein kleines Haus bewohnten. Sie war das älteste von elf Geschwistern. Der Vater war „Oberschweizer“ auf dem Gut, ihm unterstanden die Kühe. Margarete, die Erstgeborene, war sein Liebling. Es war eng im Haus, was gerade nicht gebraucht wurde, hing oben an den Balken. In der kleinen Kammer neben der Stube schlief die Mutter mit dem jeweils jüngsten Kind. Wenn man Zucker auf die Fensterbank legt, kommt ein neues Kind. Es lag immer Zucker da. In der Schule gab es einen Klassenraum, erste Reihe erste Klasse, zweite Reihe zweite Klasse … In jeder Reihe saß ein Bruder oder eine Schwester.

Margarete arbeitete auf dem Gut als Kindermädchen, sie durfte mit ins Theater, sah sich die Tischmanieren ab, lernte das bessere Leben kennen. Sie wäre gern hinausgezogen in die Welt, aber sie kam nur bis Danzig, dort ging sie in die Lehre, Schneiderin wollte sie werden. Aber dann kam der Krieg.

Sie flüchteten, zunächst in einem Viehwaggon, dann zu Fuß. Margarete hielt alle zusammen, sprach ihnen Mut zu. „Augen zu und durch, sonst wären wir verrückt geworden.“ Am Wegesrand die Toten, zu essen gab es Kartoffelschalen, gebraten in Motorenöl. Das jüngste Kind, gerade ein Jahr alt, trug sie im Arm. Irgendwann trafen sie auf Soldaten. Einer zeigte auf ihre kleine Schwester. Sie stellte sich schützend vor sie und bot sich statt ihrer an.

Sie kamen bis Stendal. Der Familie wurde eine Bauernhofhälfte zugelost, Margarete fand Anstellung in einem Haushalt, aber sie wollte nicht bleiben.

Ostern 1950 floh sie mit einer Freundin in den Westen. Rote Schuhe, Lodenmantel, Rucksack. Grenzer griffen sie auf, sie sahen sich schon im Knast, aber es waren westdeutsche Grenzer. In der nächsten Kneipe rauchten sie erst mal eine Zigarette auf den Schreck.

Sie gelangte bis Unna und wollte sofort wieder die Familie um sich scharen, aber der Vater mochte nicht schon wieder alles aufgeben. Die Hälfte der Familie blieb im Osten, die andere kam in den Westen.

In der alten Heimat war sie einmal verliebt gewesen, sie sah den Mann Jahre später wieder, da war sie längst Mutter, und er war mit einer anderen verheiratet. Sie hat ihm nachgetrauert, der Unschuld der ersten Liebe. Der Vater ihres Kindes hingegen war ein Filou, gut aussehend, einer, der gern den Geiger an den Tisch holte, obwohl sein Lohn als Dreher das eigentlich nicht hergab.

Er war kein schlechter Mensch, aber er begriff nicht, dass sie alles Körperliche zwischen Mann und Frau hasste. Sie wollte ein Kind, aber ihn wollte sie nicht. Sie haben sich verflucht irgendwann, weil sie nicht zueinanderfinden konnten.

Vier Jahre ging das mehr schlecht als recht, dann trennten sie sich. „Ich schaff' das allein!“ Sie hat nie wieder einen Mann kennengelernt, nie wieder einen kennenlernen wollen.

Sie hatte ihre Tochter, und sie hatte ihre Familie. Mit 50 hat sie Altenpflegerin gelernt, mit 60 ging sie in Rente. Sie legte Wert auf gutes Geschirr, auf Schmuck und auf ein adrettes Äußeres. Sie spielte gern Mundharmonika und sang, wann immer es ging. Auf wen hätte sie neidisch sein sollen? „Was wir haben, ist das Größte.“

Mit 80 zog sie nach Berlin zu ihrer Tochter. Heimat ist da, wo die Familie lebt. Vor der fremden Stadt hatte sie keine Angst, sie fand sich gut zurecht, aber vor dem Tod, da fürchtete sie sich schon ein wenig. Aber es ging ruhig zu Ende. Die Tochter flüsterte ihr ins Ohr: „Wir werden uns ja wiedersehen.“ Die Mutter schloss beruhigt die Augen und tat noch drei Atemzüge. Gregor Eisenhauer

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