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Berlin: Mara Romero (geb. 1969)

Sie zieht ihn auf die Tanzfläche zum Salsa

Hinter jedem Glück lauert ein Unglück, hinter jedem Unglück wartet ein Glück. Als er die Frau da sitzen sah, allein im Café, war es um ihn geschehen. Vor ihr zwei Stück Kuchen. Sein Herz gefror. Sie ist vergeben! Was hat er zu verlieren, jetzt da er alles verloren glaubt? Er spricht sie an: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Sie nickt, ist erfreut über Gesellschaft.

Sie erzählt ihm, dass sie aus Argentinien stammt, aus Rosario, der Stadt, in der auch Che Guevara geboren wurde. Die Stadt der Kämpfer. Ihre Mutter zog die drei Töchter allein groß, ging putzen, um die Familie zu ernähren. Eine Kindheit in Armut. Aber es gab ein Zuhause, in dem immer Trubel herrschte, immer Lachen erklang und jeder für den anderen einstand.

Das zweite Stück Torte? Das hatte sie zum Gedenken an ihren Großvater bestellt. „Als er starb, gab es zum ersten Mal in meinem Leben Schokoladenkuchen. Ich küsste zum Abschied seine Stirn, dankte ihm.“ Die Gestorbenen sind es, die uns das Glück des Lebens spüren lassen. Bevor die unbekannte Schöne das Café verließ, packte sie das unberührte Kuchenstück ein: „Für meinen Sohn.“

Ihr Name ist Mara, sie wird seine Frau. Nach einem Jahr kommt beider Tochter zur Welt, Geraldine.

Es war sein Café, in dem sie sich kennenlernten. Das Café Einstein unweit des Brandenburger Tores. Sein Lebenstraum, ein Café nach Wiener Art. Eine „private Akademie für Lebenskunst“, ein „Kosmos, bei dem jeder Tisch einen eigenen Planeten repräsentiert“ schwärmt Gerald Uhlig. Er hatte Schauspielerei am Max Reinhardt Seminar studiert, aber das Theater war ihm nicht genug. Das Malen auch nicht, das Schreiben nicht. Er wollte die Bühne dort, wo die eigentlichen Dramen sich abspielen, im wirklichen Leben.

Die Magie dieses Moments des Kennenlernens, der Stoffwechsel der Liebe. Was hat beider Seelen, beider Körper zueinander gezogen? War es der Wille zum Leben oder die Krankheit zum Tode?

Ein neiderweckend erfülltes Leben, das sie gemeinsam führten. Aber Geralds Lebenstraum ist einer schwachen Konstitution abgerungen. Krieg herrscht in seinem Körper. Schmerzattacken seit frühester Jugend, Fieberschübe, Hornhauttrübungen, Herzprobleme und immer schwächer arbeitende Nieren. Er muss zehn Pillen am Tag nehmen, „rote, blaue, pinke, all die Farben, die mir auch als Künstler wichtig sind.“

Ein Nierenversagen droht. Nur eine Transplantation kann ihn vor der lebenslangen Dialyse retten. Drei bis vier Menschen sterben hierzulande jeden Tag, weil es an Spenderorganen mangelt. Ein Unglück aus Gedankenlosigkeit. Denn fast jeder würde in der Not ein Spenderorgan annehmen, aber nur wenige spenden.

„Wenn du eine Niere brauchst, kriegst du eine Niere von mir.“ Mara zögerte keine Sekunde. Für sie war das Leben nur dann Freude, wenn sie die Freude teilen konnte. Gerald dankt es ihr mit der schönsten Liebeserklärung der Welt: „Ich habe durch sie meine Todesangst verloren.“

Komm Tanzen! Mara schüttelt ihre braunen Locken, zaubert ein Lächeln auf die Lippen und flüstert: „Geraldo, komm !“ Sie zieht ihn auf die Tanzfläche zum Salsa, ihrem Lieblingstanz, den sie so viel besser tanzt als er. Wen kümmert’s? „Sie machte uns beide im Tanz schön“, fand er und ließ sich führen.

Mara tanzte ihre Seele frei, wann immer sie sich ängstigte, wann immer die Freude sie überkam. Sich ganz allein und allen gehören. Noch kurz vor der Geburt ihrer Tochter war sie zum Tanzen auf dem Karneval der Kulturen. Es ist nicht das Leben, das uns unfroh macht, wir sind es selbst.

Der Frühling war da und brachte neue Hoffnung. Am 21. März 2006 spendete sie ihm eine ihrer Nieren. Der Operationstag fiel auf den zehnten Jahrestag der Eröffnung des Cafés. Die Ärzte stellten nach der Operation einen Gendefekt bei ihm fest, den er von der Mutter geerbt hatte: Morbus Fabry, die Krankheit zum Tode.

Aber Maras Niere gibt ihm neue Kraft. Das Leben kann nicht mehr schöner werden. Sie beginnt, selbst in einem Café zu arbeiten, schafft sich ihre eigene kleine Bühne, kauft sich einen kleinen roten Motorroller, Helfer ihrer Umtriebigkeit.

Da ist das Happy End zum Greifen nah. Aber das Glück ist immer flüchtig. Der Frühling kommt und bringt die schlimme Nachricht. Die Diagnose: Bauchspeicheldrüsenkrebs. Nein, nicht über ihn, über sie ist das Todesurteil verhängt. Ein halbes Jahr noch. Schon Maras Mutter und Schwester sind daran gestorben.

„Kinder, ich möchte so gern bleiben. Aber der Körper lässt es nicht mehr zu. Ich werde sterben!“

Die Familie war bei ihr. Die Schwestern, der Onkel, die Kinder. Sie betete. Gab die Hoffnung nicht auf. Reden, lachen, beieinander sein, die Hände halten. Loslassen. Ein Fischlein auf dem Trockenen, nach Luft schnappend. Der Atem endet. Das Blut stockt. Die Temperatur fällt. Der Körper wird kalt. Der Tod. Die offenen Augen.

In einem weißen Kleid wurde sie aufgebahrt, das Haus voller Kerzen. Sie lag da für einen Tag, die Haustür stand allen offen, die Abschied nehmen wollten. Sie wird es vom Himmel herab mit ihren leuchtenden Augen verfolgt haben. Denn das hatte sie ihren Kindern versprochen: „Im Himmel stehe ich jeden Morgen ganz früh auf. Dann bin ich schon vor euch wach und mache euch Licht für den Tag.“ Gregor Eisenhauer

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