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Hochhäuser in Berlin-Marzahn.

© Matthias Balk/ dpa

Mangelhafte Stadtentwicklung in Berlin: Die wachsende Stadt muss lebenswert bleiben

In Berlin werden fast alle Probleme früh erkannt. Doch das war’s dann auch. Die Umsetzung der Lösungsvorschläge scheitert fast immer. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Gerd Appenzeller

Als die Bevölkerung Berlins im Zuge der Industrialisierung und nach der Reichsgründung ab 1880 rapide wuchs, waren Unterbringung, Transport und Ernährung die größten Probleme. Nicht alle wurden schnell gelöst. Über das Leben in den Mietskasernen, das in einer Zeit ohne ausgeprägte soziale Verantwortung menschenunwürdig gewesen sein muss, hat uns keiner drastischer als der Zeichner Heinrich Zille jede Illusion genommen.

Mehr Weitblick zeigten die Planer bei der Versorgung der Stadtbevölkerung und bei der Bewältigung der Verkehrsprobleme. Der S-Bahn-Ring war bereits 1877 geschlossen. Schon 1882 fuhr auch die Stadtbahn. Um die Ernährung sicher zu stellen, wurde 1897 der Kornversuchsspeicher auf dem Gelände des Hamburg-Lehrter-Güterbahnhofs in der heutigen Heidestraße errichtet. Hier wurde wissenschaftlich untersucht, wie man große Mengen an Getreide ohne Verluste durch Schädlinge oder Schimmelpilze lagern kann.

Keiner scheitert bei der Aufgabe so sehr wie R2G

Und heute? Die Stadtentwicklungsplanung des 21. Jahrhunderts ist der des 19. Jahrhunderts in der Analyse der Probleme und der bildhaften Beschreibung möglicher Lösungen um Welten überlegen. Noch nie wurden Fragestellungen so umfassend diskutiert und Lösungsansätze so werbewirksam dargestellt wie heute. Aber bei der Umsetzung der Ideen und der praktischen Bewältigung erkannter Mängel hinken Politik und Verwaltung dem damaligen Tempo weit hinterher. Man kann sagen: Keiner scheitert bei der Aufgabe, die wachsende Stadt wieder lebenswert zu machen oder zu erhalten, auf so hohem Niveau wie die Koalitionen der letzten Jahre.

Niemand weiß, ob die CDU oder die FDP irgend etwas besser gemacht hätten. Der Niedergang der Christdemokraten und Liberalen hatte ja benennbare parteiinterne Ursachen. Aber wie sich SPD und Linke, und inzwischen auch durchaus gleichwertig die Grünen, bei der Lösung der großen Wachstumsfragen gegenseitig blockieren; wie sie das, was sie vorhaben, aber nicht umsetzen, mit blumigem Politwerbesprech hinter Wortgirlanden verstecken, grenzt schon an Scharlatanerie.

Dabei gibt es ein Konzept, das zwar nicht alle absurden Verwaltungsdummheiten vom Tisch wischt wie die aberwitzigen Reglementierungen etwa bei der Ausstattung von Kitas – aber das „Stadtentwicklungskonzept 2030“ bietet wirklich einen Rahmen für praktische Politik. Weil daran fast alle gesellschaftlichen Gruppen der Stadt mitgearbeitet haben, gibt es auch keinen Grund, mit der Umsetzung zu warten. Dieses Konzept basiert auf einer ganzen Kette öffentlicher Veranstaltungen, die zwischen Januar 2013 und November 2014 stattfanden.

Die ersten Einladungen dazu wurden im Winter 2012 versandt. Stadtentwicklungssenator in dieser Zeit war Michael Müller. Wer nach der Lektüre des Stadtentwicklungskonzeptes und als Teilnehmer vieler Veranstaltungen heute feststellt, dies sei die produktivste Zeit des Politikers Michael Müller gewesen, kritisiert damit nicht direkt die Arbeit des heutigen Regierenden Bürgermeisters. Er bedauert vor allem, dass von der Aufbruchsstimmung nichts blieb.

Von "Nutzung der Flächenpotenziale" kann keine Rede sein

Dabei gab es eine Stabübergabe. Andreas Geisel, Müllers umtriebiger Nachfolger als Stadtentwicklungssenator (bis Ende 2016), schrieb in einer aktualisierten Fassung (die erste wurde im März 2013 gedruckt): „Wir werden die Kreativität, die Innovations- und Wandlungsfähigkeit sowie die Flächenpotenziale Berlins nutzen, um beispielgebende Lösungen für die Herausforderung von Städten zu schaffen.“ Man liest verheißungsvolle Zwischenüberschriften, aber der Gipfel der planerischen und politischen Prophezeiungen einer neuen Zeit ist dann wohl dies: „Basierend auf dem Stadtentwicklungsplan 'Wohnen 2025' bieten 25 größere Wohnungsneubaustandorte die Möglichkeit, rund 50.000 Wohnungen zu erstellen. Weitere größere und mittlere Standorte bieten ein zusätzliches Potenzial für ca. 70.000 Wohnungen. Darüber hinaus sind bis zum Jahre 2025 ca. 30.000 Wohnungen in kleineren Standorten realisierbar.“

Schöne Worte bislang, mehr nicht. Die Ernährung sichert kein Kornspeicher mehr, sondern Edeka, Netto, Aldi und Rewe. Um die Lage auf dem Wohnungsmarkt kümmern sich Zilles Nachfolger, die Karikaturisten. So schlimm gewohnt wie zu dessen Zeiten wird nicht mehr – aber gebaut wird eben auch nicht. Von „Nutzung der Flächenpotenziale“ kann keine Rede sein. Ach ja: Die Zweigleisigkeit der S-Bahn nach Hennigsdorf und Oranienburg könnte 2035 kommen. Dass sie nötig wäre, weiß man seit 20 Jahren.

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