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Berlin: Manfred Becker (Geb. 1949)

"Mensch Manni, jetzt mach keinen Mist!"

Von David Ensikat

Siegfried Becker war 17, befand sich in der Ausbildung bei der Bundesbahn und aß gerade Mittag in der Kantine, als am Nachbartisch jemand die Bild-Zeitung auseinanderfaltete. Die Titelgeschichte berichtete von einem jungen Deutschen in Italien, der im LSD- Rausch ein Geschäft überfallen, eine Frau erschossen und zwei Männer angeschossen hatte. Siegfried Becker sah auf der Titelseite das Bild des Täters. Das war Manni! Sein großer Bruder Manni!

Es war nicht mal ein Jahr her, da hatte sich Manni zwei Mark von Siegfried geliehen und sich damit auf den Weg nach Italien gemacht. Mit zwei Mark nach Italien – so einer war der Manni. Da konnte der Vater toben und die Mutter weinen, weil Manni so viel Mist gebaut hat, sie konnten ihm den Umgang mit Manni verbieten – Siegfried bewunderte Manni. Weil das sein großer Bruder war, der sich nicht abfand mit der kleinen Welt, der Regeln und Gesetze für „Spießersoße“ hielt. Der schwul war, und der darauf pfiff, dass der Vater mit Prügel drohte, wenn es um die Männerliebe ging. Der am Arm eine Rolex trug, Sinnbild des Vertrauens in die glückstiftende Macht der Dinge. Und darin, dass man sich die Dinge nehmen kann; man muss nur zugreifen.

Manni hatte schon ziemlich oft zugegriffen, vor allem in Situationen, in denen er es nicht hätte tun sollen. Mit 15 drehte er sein erstes Ding. Er war vom Gymnasium geflogen, weil er sich zu oft beim Rauchen auf dem Schulhof hatte erwischen lassen, hatte eine Lehre angefangen, und war mit 5000 Mark, die er zur Bank bringen sollte, nach Österreich durchgebrannt. Dort landete er für ein paar Wochen im Knast, wurde zurückgeschickt nach Hause, überfiel mit einer Zündplättchenpistole einen Lottoladen und kam gleich wieder hinter Gitter. Es war das Jahr 1966, da war man sich noch viel sicherer als heute, dass harte Strafen helfen. Dreieinhalb Jahre musste Manni sitzen. Man kann nicht sagen, dass die Erfahrung ihn zum braven Bürger machte.

Kaum war er aus dem Knast entlassen, gab es zu Hause Stunk. Zum Mittag gab es Linseneintopf, Manni beschwerte sich, den Fraß könne doch niemand essen, woraufhin der Vater ihm die Suppenschüssel über den Kopf stülpte. Siegfried, der den Eintopf ebenso wenig liebte wie sein Bruder, saß dabei und lernte, dass man derlei Auffassungen besser für sich behält. Außer man hat Mut wie Manni.

Jetzt gab ihm Siegfried all sein Geld, zwei Mark, und Manni machte sich auf den Weg nach Italien, fort von Linseneintopf, Vater, Mutter, Spießersoße.

Und nun hatten die Italiener Manni festgenommen, weil er wie wahnsinnig um sich geschossen hatte. Eine Frau war tot, zwei Männer verletzt. Erst kam Manni ins Gefängnis, dann in die Psychiatrie: Dort, in Neapel, besuchte ihn Siegfried. Er kann sich noch gut erinnern, die Anstalt, nichts anderes als ein Gefängnis für die harten Fälle, war eine alte Burg mit dicken Mauern. Außer Manni saßen dort die schlimmsten Mafiosi. Manni führte Siegfried herum, stellte ihn stolz und gewandt den harten Typen vor und bat ihn, am nächsten Tag wiederzukommen, mit so viel Obst, wie er tragen konnte.

Siegfried tat das – und traute seinen Augen nicht: Da wurde ein Fest gefeiert, ein Gelage. Ein Mafiaboss hatte Geburtstag, das Wachpersonal mit weißen Tüchern überm Arm bediente. Mittendrin sein Bruder Manni, der Italienisch sprach und sich bewegte, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. Ein Mann, der hier zurechtkam, auf dieser durchgeknallten Burg, zwischen diesen durchgeknallten Typen – was konnte aus dem alles werden, draußen in der Freiheit!

Ein zweiter Besuch in Neapel, diesmal gemeinsam mit dem Vater. Manni hatte Ausgang, er wusste ja nicht nur, wie man sich mit Mafiosi gutstellte sondern auch mit dem Aufsichtspersonal. „Ihr müsst mir helfen“, sagte er zu Vater und Bruder. „Ich geh’ nicht wieder in die Burg!“ Da gab ihm Siegfried seinen Pass und seinen Mitarbeiterausweis von der Bundesbahn.

Es war der Sommer 1974, Manni floh mit den Papieren seines Bruders. Der ihn immer noch bewunderte, weil er so anders war als Siegfried, ohne öden Bundesbahnerjob, dafür mit großen Träumen.

Manni überfiel die Hauptpost in Dortmund mit einem Schreckschussrevolver, dann noch eine Sparkasse in Mannheim, dann schnappte ihn die Polizei.

Januar 1993, Siegfried besucht Manfred in Thailand. Da lebt er jetzt, weil er in Vietnam kein Dauervisum bekommen hat. Dort wollte er ein neues Leben anfangen; jetzt versucht er es im Norden Thailands. In Deutschland wird er gesucht, da hat er noch zwölf Jahre abzusitzen wegen ein paar dummen Sachen in den Achtzigern.

Manfred erzählt von seinem anständigen Leben, er ist bei einem Bekannten untergekommen, mit dem er gemeinsam eine Art Schachklub betreibt. Gegen eine Gebühr können die Leute gegen Manfred spielen, wer ihn besiegt, soll 50 Dollar kriegen. Es besiegt ihn aber keiner. Denn Manfred hat in seinen Knastjahren kaum anderes getan als Schach gespielt. Siegfried überweist ihm jeden Monat 500 Dollar, damit kommt er einigermaßen aus. Aber soll das alles sein?

Manfred zieht unterm Bett eine große Reisetasche vor und öffnet den Reißverschluss. Ein süßer Geruch dringt aus der Tasche. Marihuana, 32 Kilo.

„Mensch Manni, jetzt mach kein’ Mist! Wenn die dich mit dem Zeug schnappen, baumelst du! Die sind hier härter drauf als bei uns.“ – „Ach was! Du kleiner Schisser! Sekt oder Selters. Lass uns runter nach Ko Samui fahren, das Zeug an Touristen verticken. Du glaubst nicht, was die zahlen!“

Dann erzählt er noch was von den Aldi-Brüdern, die auch mit kleinen Geschäften angefangen und dann etwas mehr riskiert hätten.

Und Siegfried? Der kleine Bruder glaubt, er müsse den großen retten. Bei der Flucht aus Deutschland nach Vietnam hat er ihm geholfen, und er hat gehofft, dass es diesmal gut gehen würde. Jetzt begleitet er Manni nach Ko Samui. In der Eisenbahn setzt er sich in ein entferntes Abteil, im Hotel nimmt er ein Zimmer am anderen Ende des Flurs. Er kann Manni überzeugen, dass man das Marihuana in extra Plastiktüten verpacken muss, weil es so stinkt. Auf Ko Samui ist es aber nicht Siegfried, der Manni rettet. Es sind Drogenhändler, die mitbekommen, was der Deutsche vorhat. Sie warnen ihn sehr deutlich, wenn auch nicht vor der Polizei. Schließlich kaufen sie ihm die ganze Tasche ab.

Ein Jahr später bekommt Siegfried Post aus Thailand: Manni sitzt im Knast. Scheckkartenbetrug. Nach zwei Jahren könnte er freikommen, aber inzwischen weiß das Bundeskriminalamt, wo er steckt. Manni fehlen 500 Dollar, um den Gefängnischef in Bangkok zu bestechen, also wird er an die Deutschen ausgeliefert. Und landet wieder im Gefängnis und in der geschlossenen Psychiatrie, es werden Gutachten erstellt, die Behörden rätseln, was sie mit ihm machen sollen. Klug ist er, geständig, er zeigt Einsicht. Aber was wird er tun, wenn sie ihn freilassen?

In den Gutachten ist die Rede von einer „dissozialen Persönlichkeitsstörung“. Wie sollte es auch anders sein bei einem, der seit seinem 16. Lebensjahr fast nur im Knast gesessen hat?

Was braucht eine soziale Persönlichkeit denn? Sozialkontakte höchstwahrscheinlich. Manfred Becker hat so etwas nicht, weder im Knast noch in der Psychiatrie. Draußen wartet niemand auf ihn. Außer Siegfried. Und der hat ebenso viel Sehnsucht nach dem Bruder in Freiheit wie Angst vor ihm. Wird er wieder etwas anstellen?

Manni wird älter, um seine Gesundheit steht es nicht gut. Er beteuert, dass er keine „kriminelle Brause“ mehr im Kopf habe. Die letzten „Kriminalprognostischen Gutachten“ bescheinigen Manni ein ruhigeres Gemüt. Im Sommer 2010 kommt er raus, auf Bewährung.

Manni ist jetzt 61, und er will sich nützlich machen. Gerne ehrenamtlich. In den letzten Monaten hat er in einem Aidsprojekt ausgeholfen. Etwas in der Art würde er gerne wieder tun. Die Jobvermittler schicken ihn zu Tests und Schulungen zur Wiedereingliederung. Ein Job steht nicht in Aussicht, nur Maßnahmen. An der Wand seines kleinen Wohnheimzimmers hängt ein Text von Albert Schweitzer, „Freiheit“: „Ich will unter keinen Umständen ein Allerweltsmensch sein. Ich habe ein Recht darauf, aus dem Rahmen zu fallen, wenn ich es kann. Ich wünsche mir Chancen, nicht Sicherheiten.“

Manni sagt zu Siegfried: „Wir müssen nach Vietnam! Da fahren wir mit dem Motorrad quer durchs Land.“ Siegfried sagt: „Mensch Manni, wir sind älter geworden. Das schaffen wir nicht mehr.“

Nach einem halben Jahr in Freiheit stirbt Manfred Becker. Die Todesursache ist nicht ganz klar; es war wohl etwas mit dem Herzen.

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