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Am liebsten schlank. Wer die Pfunde auch durch fleißiges Laufen nicht los wird, vertraut sich gern dem Chirurgen an.

© imago/Rubra

Magenverkleinerung: Kleine Lösung, große Wirkung

Lässt sich hartnäckige Fettleibigkeit mit den herkömmlichen Mitteln nicht bekämpfen, bleibt der Schritt zur Magenverkleinerung. Vor zwanzig Jahren war diese Therapie noch verpönt, doch heute ist sie ein erprobtes und wirksames Verfahren.

So eine Urlaubsbekanntschaft macht man wahrscheinlich nicht alle Tage: 2011 war Heike Neumann gerade auf dem Flughafen von Izmir in der Türkei gelandet und wartete auf ihr Gepäck. Eine fremde Frau sprach sie an: „Ich möchte Ihnen etwas sagen. Denn auch ich bin diesen Weg gegangen.“ Die Frau, Berlinerin wie sie, wollte ihr die Augen öffnen – für die Möglichkeit einer operativen Magenverkleinerung. Auf Dinner-Partys wäre das wohl nicht der optimale Gesprächseinstieg. Aber dass Heike Neumann ein Problem hatte, war ja nicht zu übersehen. Sie wog 156 Kilo. Um das als Normalgewicht zu bezeichnen, hätte sie über drei Meter groß sein müssen – und nicht 1,71 Meter wie in der Realität. Heike Neumann war schwer adipös.

Man glaubt es kaum, wenn man die heute 39-Jährige im Büro von Martin Susewind sitzen sieht, der das Adipositas-Zentrum an der Klinik für MIC in Zehlendorf leitet: schlanke Linien, eleganter Businessanzug, straffe Haut, Zuversicht im Blick. Bis vor vier Jahren war das komplett anders. Hoher Blutdruck, Gelenk- und Rückenbeschwerden und Schlafprobleme bestimmten ihren Alltag. Wie viele übergewichtige Menschen musste sie immer doppelt so viel leisten wie andere, um Anerkennung zu bekommen. „So wurde ich zum Workaholic“, erzählt sie. Heike Neumann ist selbstständig, vertreibt Netzwerkkomponenten, und weil sie viele Kunden im Ausland hat, fliegt sie oft. „Ich bat die Airlines beim Einchecken, den Platz neben mir möglichst freizulassen. Was nicht immer geklappt hat.“ Irgendwann begann sie, nur noch vom Büro aus zu arbeiten. Die Scham, die Schuldgefühle – sie waren auch der Grund, warum sie nicht ins Fitnessstudio ging. Immer diese Blicke, überall, bei jeder Feier, bei jedem Stück Kuchen, dass sie in die Hand nahm. Aquafitness machte ihr Spaß, aber half nichts. Genauso wenig wie die Diäten, die sie ausprobiert hat, oder Akupunktur. „Einmal war ich sogar auf 95 Kilo runter. Aber dann bald wieder rauf auf 130“. Ein Jojo-Effekt, von dem viele Übergewichtige berichten.

Adipositas hat viele Gründe

Fettleibigkeit ist weltweit auf dem Vormarsch, auch und besonders in Deutschland. Kein Wunder, dass parallel dazu die Zahl operativ durchgeführter Magenverkleinerungen ansteigt. An der MIC-Klinik wuchs sie von 223 Eingriffen im Jahr 2011 auf 431 fünf Jahre später. Adipositas hat viele Gründe, sie ist „multifaktoriell“ bedingt, wie es Martin Susewind ausdrückt. Die wichtigsten sind: genetische Veranlagung, Ernährung und Bewegung. „Unser Lifestyle begünstigt Adipositas. Essen muss vor allem schmecken und schnell zubereitet sein. Unsere Bewegung ist technisiert“, erklärt er. Aber auch psychologische Faktoren, etwa schlimme Erlebnisse wie eine Vergewaltigung, können die Entstehung von Adipositas begünstigen.

Ist der Körper erst mal auf den neuen Masse-Level eingestellt, ist eine Rückkehr zum Normalzustand schwer. Dann kann eine Operation helfen. Richtwert für einen Eingriff ist der Body-Mass-Index (BMI). Liegt er über 40, rät auch die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) dazu, einen Eingriff zu erwägen – allerdings erst dann, „wenn vorherige konservative Therapieprogramme zu keiner ausreichenden Gewichtssenkung geführt haben“, sagt Hans Hauner vom Münchner Fresenius-Zentrum für Ernährungsmedizin, er ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der DAG. „Eine so schwere Adipositas ist kein Lebensstilproblem und kein Ausdruck von Willensschwäche, sondern eine ernsthafte Erkrankung.“

In den Sprechstunden fühlen sich die Patienten erstmals ernst genommen

Martin Susewind
Martin Susewind

©  Thilo Rückeis

Auf Heike Neumann trafen alle Bedingungen zu. Vergebens hatte sie Diäten und Gymnastik ausprobiert, und ihr BMI lag damals, als sie in den Urlaub flog, bei 45. Was die Frau aus Berlin in Izmir zu ihr gesagt hatte, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie begann zu recherchieren, stieß bald auf das Adipositas-Zentrum der MIC-Klinik, das (neben dem Adipositas-Zentrum des Vivantes Klinikums in Spandau) erste Anlaufstelle für Magenverkleinerungs-Operationen in Berlin ist und in den letzten Jahren regelmäßig als Kompetenzzentrum rezertifiziert wurde.

Schon nach zwei Wochen hatte sie dort ihr erstes Treffen mit dem Arzt. „In unseren Sprechstunden“, sagt Susewind, „spüren die Patienten regelmäßig eine emotionale Grenze, weil sie sich erstmals in ihrem Leben ernst genommen fühlen.“ Denn im Alltag würden die Betroffenen häufig keine ausreichende Unterstützung erfahren, manchmal sogar vom Hausarzt nicht.

Wichtig ist eine hohe Eigenmotivation

Heike Neumann wurde ein halbes Jahr lang auf die Operation vorbereitet. Sie bekam eine ausführliche Ernährungs-, Verhaltens- und Bewegungsberatung und musste ein Ernährungsprotokoll erstellen. „Multimodales Konzept“ heißt dieses Programm. „Die Operation ist eine extrem hilfreiche Hilfestellung“, sagt Susewind. Aber eben nicht mehr als das. „Wichtig ist eine hohe Eigenmotivation und Bereitschaft der Betroffenen, ihre Ernährung und Bewegung auf Dauer umzustellen, da sonst der Erfolg der Operation gefährdet ist“, sagt Hans Hauner von der DAG. Wer in diesem Stadium nicht genügend „Compliance“ zeigt – also die Bereitschaft, mitzumachen – gefährdet das Zustandekommen der Operation. Außerdem ist dieses Vorbereitungsprogramm auch notwendig, damit die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Dafür müssen, bei einem BMI zwischen 35 und 40, zusätzlich noch zwei Begleiterkrankungen vorliegen, etwa Schlafapnoe – also nächtliche Atemaussetzer –, Diabetes mellitus oder Bluthochdruck. Nur bei einem BMI über 60 erfolgt die Kostenübernahme ohne diese sogenannten Ko-Morbiditäten, aber auch dann muss parallel dazu das Begleitprogramm absolviert werden.

Zusätzlich müssen externe Ärzte die OP befürworten, bei Heike Neumann waren das ein Allgemeinmediziner, ein Orthopäde und ein Gynäkologe. In einem ausführlichen Brief an ihre Krankenkasse beschrieb sie ihre Situation als übergewichtige Frau und ihre Ziele: Kleidergröße 44/46 und ein Gewicht von 90 Kilo. „Ich glaube inzwischen, dass ich dieses Ziel nur mit einem Magenbypass erreichen und auch halten kann und wünsche mir nichts sehnlicher, als den Weg für ein neues Lebensgefühl dank Ihnen planen zu können“, schrieb sie.

Ein Eingriff, der alles verändert

Es hat geklappt. Wann ihre Operation stattfand, weiß Heike Neumann natürlich noch genau: am 5. Juli 2013. Denn dieser Eingriff hat alles verändert. Um große Schnitte in die Bauchdecke zu vermeiden, wurde die OP minimalinvasiv durchgeführt. Dazu sind fünf kleine Schnitte nötig, in die unter anderem eine Kamera und die langstieligen Instrumente eingeführt werden. Das ist heute das Standardverfahren.

Beim Magenbypass, der häufigsten Form der Magenverkleinerung, trennt der Chirurg einen kleinen Teil des Magens ab und verknüpft ihn mit dem Dünndarm, dieser kleine Teil bildet nun den neuen Magen. Der große Restmagen verbleibt zwar im Körper, doch er ist von der Verdauung abgekoppelt. „Bei der Entscheidung zur Operation hat mir auch die Vorstellung geholfen, dass man den Eingriff theoretisch wieder rückgängig machen könnte“, erzählt Heike Neumann. Über mögliche Risiken war sie natürlich aufgeklärt: Undichtigkeit der neuen Verknüpfung von Magen und Dünndarm, Bauchfellentzündung, entgleisender Bluthochdruck, Thrombose, Lungenembolie.

In den 50er Jahren verdrahtete man noch den Mund

Schlank. Früher brauchte Heike Neumann im Flieger zwei Plätze.
Schlank. Früher brauchte Heike Neumann im Flieger zwei Plätze.

©  Thilo Rückeis

Nichts davon ist bei Heike Neumann eingetreten. Schon nach drei Tagen konnte sie die Klinik wieder verlassen. Ihr Leben hat sich grundlegend verändert. Sie wiegt nur noch 70 Kilo, hat 86 Kilo abgenommen. „Typischerweise sinkt das Gewicht kurz nach der OP drastisch, nimmt später noch mal kurz zu, um sich dann auf einem niedrigeren Level einzupendeln“, sagt der Chirurg Susewind. Vor allem: Heike Neumanns Magen meldet seit der OP, wenn sie satt ist. „Diese Meldung hat es früher einfach nicht gegeben“, sagt sie.

Sie kann heute alles essen, nur auf die Menge muss sie achten. Sie konzentriert sich auf Proteine, Vitamine und Eiweiße, lässt Kohlenhydrate im Zweifelsfall lieber weg. Und sie muss mehrere Tabletten am Tag zu sich nehmen, die sogenannte Supplementierung: Vitaminpräparate, Eisen, Folsäure, Kalzium, Magnesium, Zink. Alle sechs Monate steht ein Laborcheck in der Klinik an. Hat sie sich falsch ernährt, kommt es spätestens jetzt raus. Alles in allem scheint der Aufwand überschaubar zu sein für einen massiven Zugewinn an Lebensqualität.

Es war ein weiter Weg von den Mundverdrahtungen, mit denen man in den 50er Jahren noch versucht hat, übergewichtige Patienten vom Essen abzuhalten. „In der Medizin geschehen viele Entwicklungen auch aus Zufall“, erklärt Martin Susewind. Die chirurgische Magenverkleinerung, wie sie heute praktiziert wird, sei eher nebenbei während der Behandlung von Magengeschwüren entdeckt worden. Gegner des Eingriffs hätten seine Kollegen und ihn noch vor 20 Jahren als „Verbrecher“ bezeichnet. Heute hat sich die Methode weitgehend durchgesetzt, und ihre Entwicklung ist weiterhin im Fluss. „Ob wir in 30 Jahren noch so operieren werden wie heute, ist völlig offen“, meint Susewind.

Ihre Tochter ist ihr größtes Geschenk

Heike Neumanns Leben hat sich noch aus einem anderen Grund radikal verändert. Einige Wochen nach der Operation entdeckten die Ärzte, dass sie schwanger war – zum Zeitpunkt der OP seit vermutlich drei bis fünf Tagen. Ein medizinischer Grund zum Abbruch bestand nicht, Heike Neumann brachte ihre Tochter zur Welt. „Sie ist heute mein größtes Geschenk“, sagt sie. Und ist immer noch fasziniert davon, dass auch der viel kleinere Magen ausreichte, um das Baby und sie zu ernähren. „Der Körper passt sich an.“

Viel unterwegs ist sie trotz des Kindes immer noch, aber jetzt braucht sie nur noch einen Sitzplatz. Und sie tut jetzt das, was sich Martin Susewind von allen seinen Patienten wünscht: Sie spricht von sich aus andere adipöse Frauen an und klärt sie über die Möglichkeit einer Operation auf. Mit der Urlauberin aus Izmir, die ihr den entscheidenden Anstoß gab, hat sie übrigens bis heute Kontakt.

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