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Berlin: Ludwig Mehlhorn (Geb. 1950)

Es ging nicht nur um die schöne Literatur bei ihm, es ging um weit Gefährlicheres.

Die Tür des Hauses Knaackstraße 34 zwischen Kollwitzplatz und Wasserturm war nie verschlossen, weder am Tag noch in der Nacht. Ganz oben wohnte Ludwig Mehlhorn, das wussten damals viele, in den Siebzigern, vor allem in den achtziger Jahren. „Gehst du zur Lesung?“ „Lesung bei Ludwig, komm mit!“ Die Literaturneugierigen verständigten sich.

Durch das Treppenhaus mit den müffelnden Toiletten auf halber Höhe und den knarrenden Dielen ging es nach oben. Ludwig Mehlhorn hatte Ziegelsteine unter die morschen Treppenstufen gesetzt, Bruchgefahr drohte im oberen Bereich.

Der Gastgeber reichte schwarzen Tee, manchmal gab es auch polnischen Borschtsch, die Suppe aus Roter Bete. Die machte er wie kein anderer.

Es ging nicht nur um die schöne Literatur bei ihm, es ging um weit Gefährlicheres, selbst verlegte oppositionelle Zeitschriften, Ausstellungen in Kirchen, Treffen der Initiative für Frieden und Menschenrechte. Manchmal waren 30 Leute da, manchmal auch 80.

Ludwig Mehlhorn lebte seit 1974 in diesem Haus in Prenzlauer Berg, gemeinsam mit seiner Frau und guten Freunden. Sie belegten eine ganze Etage. Man zog zueinander, besetzte Wohneinheiten, man kannte sich, vertraute einander. Den Anfang hatte Ludwig Mehlhorn gemacht.

So lebte die widerborstige Gemeinschaft in der obersten Etage: Die eine hatte ein Telefon, der andere eine Dusche, Ludwig und seine Frau hatten die neue Waschmaschine. Eine Schreibmaschine hatte jeder. Abschriften konnte man bei Ludwig Mehlhorn erhalten von Texten Reiner Kunzes und Wolf Biermanns, von Dokumenten der Charta 77 und später der Gewerkschaft Solidarnosc.

Alles fing für ihn an mit Polen, im Jahr 1969. Ein Versöhnungstreffen für junge Leute aus der DDR und Polen hatte die evangelische Gruppierung Aktion Sühnezeichen in Berlin organisiert. Ludwig Mehlhorn kam dorthin und lernte sein Lebensthema kennen.

Der Mathematiker lernte Polnisch. Er reiste in das nahe, ferne Land, er spürte die widerständige Atmosphäre dort. Er las Slawomir Mrožek, Czeslaw Milosz und viele andere, und er las anderen vor aus ihren Werken. Seine Wohnung mit den selbst gezimmerten Möbeln und den Bücherregalen wurde zu einer der beliebtesten Adressen für Neugierige, Regimekritiker und auch für Besucher aus dem Westen, die staunten, wie offen hier geredet wurde. Und die Stasi war mit ihren Spitzeln stets dabei, in den Operativvorgängen „Mühle“ und „Knacker“ führte sie Protokoll.

Es fanden sich genügend Gründe, dem Aufwiegler Berufsverbot zu erteilen – hoffend, er würde wie so viele in den Westen verschwinden. Ludwig Mehlhorn hatte an der Hochschule für Ökonomie als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Programmierer gearbeitet; jetzt, 1985 wurde er Hilfspfleger in einem evangelischen Kinderheim.

Mit einem Freund blätterte Ludwig Mehlhorn in einem Band von Paul Celan. Ein Gedicht beeindruckte sie besonders: „Radix, Matrix“. Radix, die Wurzel – die Fantasie ging über, die Not machte erfinderisch. Neue, kritische Gedanken sollten sich verteilen, wie Blätter im Wind; die „radix-blätter“ waren geboren – eine Untergrundzeitschrift, die bei den Lesungen und in Kirchenkreisen verteilt wurde.

Gemeinsam mit anderen sammelte Ludwig Mehlhorn Texte für das Buch „Oder“, die polnischen übersetzte er. „Oder“ – damit war der Grenzfluss gemeint und die Alternative – der polnische Erstbeitrag zum Sturz des Kommunismus. Ludwig Mehlhorn konnte unter seinen Freunden und zu deren Erschrecken sagen: „Ich bin Antikommunist.“

Er wusste um die Missverständlichkeit dieser Äußerung, darum sprach er nicht öffentlich davon. Aber er wusste auch: Die Zerstörungskräfte der beiden Totalitarismen der 20. Jahrhunderts stehen sich in nichts nach.

Schon in den Tagen der Revolution von 1989 ging es ihm darum, ein Zentrum für die Europäische Verständigung zu schaffen. Das Gut Kreisau in der Nähe von Wroclaw war dafür der richtige Ort. Dort, wo Helmuth James Graf von Moltke einst den Kreisauer Kreis versammelte, eine bürgerlich-intellektuelle Gruppe von Widerständlern gegen Hitler, entstand ein Ort europäischer Jugendbegegnung für Tausende. Ludwig Mehlhorn hatte daran einen großen Anteil.

Als Studienleiter der Evangelischen Akademie für Osteuropafragen regte er später auch an, die "Freya von Moltke-Stiftung" für das Neue Kreisau zu gründen. Rastlos war der Polenfreund unterwegs, geehrt mit Preisen in Polen. Das Bundesverdienstkreuz aber für seine Kreisau-Initiativen mochte er nicht annehmen. Nicht einmal stellvertretend für den Kreis der Unterstützer wollte er sich mit dieser deutschen Auszeichnung ehren lassen.

Schon vor der Revolution 1989 waren Ludwig Mehlhorn und seine Frau auf die andere Seite des Kollwitzplatzes gezogen. Auch dort stieg der Mitbegründer der "Bürgerbewegung Demokratie Jetzt“ die Treppen weit hinauf, ein Sinnbild für seine Mühen und die Tapferkeit durch all die Jahre.

Am 3. Mai ist er im Alter von 61 Jahren gestorben.

Stephan Bickhardt

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