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Berlin: Lothar Kuhnert (Geb. 1940)

Der Chemiker lebt schließlich nicht für die Chemie allein

Von David Ensikat

Aus einem kleinen Stück Hefeteig, versetzt mit Mehl und Wasser, wird ein großes Stück Hefeteig. Die logische Folgerung, aus einem kleinen Stück Gold, versetzt mit unedlem Metall könne man ein großes Stück Gold herstellen, war eine Zeit lang sehr en vogue. Alchemisten suchten nach dem Zauber, den sie „Transmutation“ nannten. Dumm nur, dass sie dabei stets mehr Gold verbrauchten, als sie produzierten. Andererseits stießen die produktiveren unter ihnen auf allerlei andere Geheimnisse, das des Phosphors etwa oder die Herstellung des Porzellans. Johannes Kunckel von Löwenstern war einer von ihnen, er transmutierte vom Goldsucher zum Hersteller des Goldrubinglases. Auf der Pfaueninsel in der Havel unternahm er seine Experimente, dunkle Rauchschwaden und stechende Gerüche stiegen in die Luft. Während der Kurfürst auf Rendite hoffte und die Bauern sich vor Hexerei fürchteten, entwickelt dieser frühe Chemielaborant die Grundlagen der Nanotechnologie.

300 Jahre später machte sich ein anderer Chemiker, Lothar Kuhnert, daran, die Kunckel-Geschichte zu ergründen und die Rubinglasexperimente nachzuvollziehen. Dabei mag ihn die wissenschaftliche Seite ebenso interessiert haben wie der wechselvolle Lebensweg des Alchimisten. Denn wie Kunckel hatte auch er die Gunst der Mächtigen verloren. Kunckel war nach dem Tod des Großen Kurfürsten in Ungnade gefallen. Im Ausland fand er noch Ruhm, Geld und Anerkennung. All das, was sich Lothar Kuhnert bis zu seinem Tod erhoffte. Der Chemiker lebt schließlich nicht für die Chemie allein.

Er wuchs in einer Wittenberger Parterrewohnung auf, zunächst in der Adolf-Hitler-Straße, die früher einmal Sternstraße geheißen hatte, nach dem Krieg in Ernst-Thälmann-Straße umbenannt wurde und inzwischen wieder Sternstraße heißt. Sehr einfache Verhältnisse, der Vater war im Krieg geblieben, die Mutter zog die Söhne allein auf. Als Lothar groß genug war, umgab ihn die DDR, ein Land, in dem die kleine Herkunft niemanden an der Karriere hinderte.

Doch nebenan lockte der Westen. Sein Schulfreund Wolfhardt war rechtzeitig rübergegangen und leistete nach dem Bau der Mauer Fluchthilfe. Zweimal bot er Lothar die Chance, ihm zu folgen. Der erste Versuch durch einen Tunnel schlug fehl, jemand hatte das Unternehmen verraten, den zweiten Versuch, mit gefälschten Pässen über Prag, brach Lothar im letzten Augenblick ab, weil er mit seiner schwangeren Frau das Risiko scheute.

Also wurde er Chemiker im Sozialismus – und studierte zunächst einmal bei einem Chemiker, der die DDR-Version des Sozialismus deutlich kritisierte: Robert Havemann. Lothar trat auch der Sozialistenpartei bei und sagte, er tue das, um die Dinge zum Besseren zu wenden. Die Stasi mutmaßte später, dass es Karrierismus war, da er „sich aus dem politischen Leben heraushält“ und „sich im persönlichen Leben nicht an die Normen hält. Dies kommt sowohl in der Pflege seines Grundstücks als auch in seiner Bekleidung zum Ausdruck.“

Er trug schlabberige Pullover, roch nach Pfeife und ließ nur soweit Ordnung herrschen, wie es die Forschertätigkeit verlangte. Sein Schulfreund Wolfhardt besuchte ihn seit den siebziger Jahren regelmäßig, sie sprachen über Politik, Sozialismus und Parteitagsbeschlüsse. Lothar hatte sich arrangiert, er war ein gut bezahlter Wissenschaftler, brachte es in jungen Jahren zum Leiter einer großen Abteilung und sah, dass nicht nur seine Karriere aufwärtsstrebte, sondern auch sein Land.

So wie der Kurfürst ehedem die Rubinglasforschung des Alchimisten Kunckel schätzte, so honorierte die DDR die Erkenntnisse des Chemikers Kuhnert am Adlershofer Zentralinstitut für Physikalische Chemie (in den achtziger Jahren unternahm ebendort eine unauffällige Kollegin namens Angela Merkel ihre politikfernen Forschungen).

Kuhnert befasste sich mit fotochemischen Prozessen, die für die Farbfilmherstellung und später für die Mikroelektronik wichtig waren. Und ebenso wie Kunckel konnte auch er materiellen Verlockungen nicht immer widerstehen. Auf Rechnungen an die Filmfabrik ersetzte er schon mal die Kontonummer seines Instituts mit der eigenen.

Für solche Irrwege volkswirtschaftlichen Eigentums war die Stasi zuständig. Im Falle Kuhnerts befand sie sich aber auf dem Holzweg: Sie dachte, er sei Spion. Viele Jahre zuvor, 1962, hatte er sich bei einer Bulgarienreise in der amerikanischen Botschaft nach Fluchtmöglichkeiten erkundigt. Eine längst vergessene Sache – nur nicht für die Stasi. Seit 1980 geriet er unter ständige Beobachtung. Eine dicke Akte gibt Bescheid über die Stasi-Paranoia und darüber, dass Kuhnert bei einer wissenschaftlichen Tagung im Ausland Kontakt zu „Bürgern aus dem NSW“ hatte – aus dem „Nichtsozialistischen Währungsbereich“, dass er an Feiertagen sein Haus nicht flaggte, und dass er ein lausiger Autofahrer war, zu langsam unterwegs, die Spuren sinnlos wechselnd.

Da drängendere Verdachtsmomente sich nicht fanden, versuchten es die Genossen mit dem guten alten Mittel der selbsterfüllenden Prophezeiung. Ein Herr, in der Akte als „IM Herbert“ vermerkt, gab sich als „Dr. Berg“ aus, Vertreter einer westdeutschen Firma, die interessiert sei, entgegen den Embargobestimmungen die DDR mit Fotolacken zu beliefern. Kuhnert sollte vermitteln. Enttäuschenderweise ließ er sich darauf nicht ein. Die „operative Personenkontrolle“ wurde eingestellt. Es findet sich noch der Vermerk: „Für eine inoffizielle Nutzung ist K. ungeeignet. Aufgrund der bei K. festgestellten Haltung ist dieser für die Übernahme von Leitungsfunktionen nicht geeignet.“ Der Direktor des Instituts solle informiert werden.

Lothar Kuhnert war jetzt 45 und seine berufliche Karriere in der DDR an ihrem Ende. Von wirtschaftlich wichtigen Projekten war er ausgeschlossen, er hatte Mühe, bestimmte Chemikalien für seine Versuche zu bekommen, Einladungen zu Konferenzen in den USA und Japan musste er ausschlagen.

Er ließ sich aus der Partei ausschließen, nahm gleichmütig die unehrenhafte Entlassung aus den Kampfgruppen hin und hoffte auf die Gelegenheit, das Land zu verlassen. Seine Mutter, die als Rentnerin in den Westen gegangen war, bestach einen Amtsarzt, der ihr eine lebensgefährliche Erkrankung attestierte. Lothar Kuhnert bekam die Erlaubnis, sie zu besuchen. In seiner Akte findet sich der Rapport 217 / 88, „Ungesetzlicher Grenzübertritt durch rechtswidrige Nichtrückkehr von einer Reise.“

Johannes Kunckel war als armer Mann nach Schweden ausgewandert. Mit seinen Fachkenntnissen konnte er dort reüssieren, wurde „königlicher Bergrat“ und mit dem hübschen Namen „zu Löwenstern“ geadelt.

Lothar Kuhnert bekam Zeitverträge an den Universitäten in Dortmund und Berlin, nichts aber, was seinen Fähigkeiten entsprochen hätte. Doch er war kein Mann, der lamentierte. Eher war er wie ein Kind, das immer neue Spielsachen entdeckt und sich in ihnen ganz verliert. Im Keller richtete er sein „Laboratorium“ ein, erforschte die Kunckel’schen Rubingläser, suchte nach Wegen, Gallustinte aus der Lutherzeit haltbar zu machen, sowie nach einer Rezeptur für nichtentfernbare Graffitti-Farbe. Er war wild entschlossen, sie an der eigenen Hauswand auszuprobieren. Seine Internetseite „LKuhnert – Laboratorium“ kündet von diversen Erkenntnissen.

Um Geld zu verdienen, versuchte er sich im Vertrieb von Damenenthaarungsstiften und von Bäckertüten, und er arbeitete fürs Ingenieurbüro seines alten Freundes Wolfhardt.

Der Tod seiner Frau Erika vor 15 Jahren hinterließ Spuren. Darüber sprach er zwar mit niemandem, aber sie waren unverkennbar. Er verlegte sein Labor vom Keller in die Stube, vertiefte sich in seine Frickeleien und kümmerte sich um die Dinge des Alltags kaum noch. Als ihm der Strom abgestellt wurde, zahlte er die Stromrechnung, als das Telefon stumm blieb, die fürs Telefon.

Eine Krankenversicherung hatte er nicht; man kann aber kaum davon ausgehen, dass ein Kalkül dahintersteckte. Wie hätte er wissen können, dass er so plötzlich sterben würde, ohne die Ankündigung nennenswerter Krankheiten?

Die Kunckel-Biografie hat Lothar Kuhnert fertiggeschrieben und als Buch selbst herausgegeben, jedes Exemplar versehen mit einem Originalpräparat von farbigem Gold, wundersame purpurne Muster auf einem kleinen saugfähigen Papierbogen. Er hat alles, was er herausbekommen hatte, in das Buch geschrieben, viel zu viel. Er konnte sich kaum vorstellen, dass andere Leute sich weniger für die Dinge interessieren würden als er. David Ensikat

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