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Lothar Grätz (1947-2018)

© privat

Lothar Grätz (Geb. 1947): Jammern ist keine Option, niemals

Er steht auf dem Balkon mit der Lampe in der Hand. Unten rufen seine Gäste: „And always carry a light bulb, Lothar“

Bob Dylan in Beatnik-Aufzug, 1965, auf einer Tour durch Großbritannien. Vor ihm Reporter in picobello Anzügen, mit Kameras, auf die riesige Blitzlichter gesteckt sind. Dylan hält eine überdimensionierte Glühbirne in der Hand, warum auch immer. Eine Reporterin fragt: „What’s your real message?“ Dylan antwortet: „Keep a good head and always carry a light bulb.“

Lothar Grätz, legeres Sakko, Skalitzer Straße, erster Stock, in den Achtzigern, Neunzigern, Zweitausendern. Auf dem Balkon hält er eine Lampe in der Hand, eine überdimensionierte Glühbirne, um denen zu winken, die in die Nacht gehen nach Wein und Gesprächen, und die ihm nach oben zurufen: „And always carry a light bulb, Lothar.“

Lothar ist Beleuchter an der Schaubühne, schon zu Peter Steins Zeiten, er hat Philosophie und Mathematik studiert, er führt einen Salon, und er liebt Dylan. Spielt einige seiner Lieder auf der Gitarre. Überall Platten, Poster, Songtexte in der Wohnung. In jungen Jahren sah er auch ein bisschen aus wie Bob, schmales Gesicht, langes, lockiges Haar. Elisa, Lothars Tochter, guckt sich als Kind die Coverfotos an, hört dem Gesang des Vaters zu und denkt: Ah, mein Papa macht Schallplatten.

„Wir machen nicht schlapp“

Elisa und Lothar sind ein unauflösliches Gespann, selbst wenn der Atlantik zwischen ihnen liegt. Als Elisa sechs ist, wandert ihre Mutter nach Kalifornien aus und nimmt sie mit. Sechs Jahre sieht sie ihren Vater nur während der Sommerferien. Immerhin drei Monate lang, doch das reicht nicht. Elisa sehnt sich, Lothar sehnt sich. Er schickt ihr Päckchen mit Puppenkleidern, Bibi-Blocksberg-Geschichten und selbst erdachten Hörspielen. „Bill, der Kojote“ auf der A-Seite einer Kassette und als Zugabe auf der B-Seite „Blue, Red and Grey“ von „The Who“: „It’s all right when you're around, rain or shine.“

Keep a good head. Aufmerksam sein, überlegt vorgehen, gerade in einer Situation wie dieser. Das Kind weit weg, die Traurigkeit. „Wir machen nicht schlapp“, sagt er ihr immer wieder. Jammern ist keine Option, niemals. Auch nicht in Gegenwart der tödlichen Krankheit. „Wir reden auf keinen Fall über den Krebs“, insistiert er, als der Krebs schon seine Zunge befallen hat. Was für ihn die Bedeutung des Sprechens im Allgemeinen aber nicht mindert. Denn Sprechen, waches, stringentes Sprechen, kann zu erstaunlichen Einsichten führen, ist er überzeugt. Das haben ihn die Philosophie und die Mathematik gelehrt, eine ideale Kombination. Während der Gespräche in seinem Salon gibt er nicht nach, bis eine Lichtung zu erkennen ist in dem Knäuel komplexer Lebensfragen. Die Dinge beleuchten und durchleuchten. Das ist ihm wichtig. Die Freunde können immer bei ihm klingeln, jeden Tag; nur Sonntag ist Ruhetag. Und sie klingeln, unablässig über all die Jahre, die Neugierigen und auch die verlorenen Seelen. Einmal möchte er die Wohnung renovieren. Doch es geht nicht, der Salon kann nicht geschlossen werden, zu groß der Bedarf.

Er lehnt das Wort Erziehung ab, und doch erzieht er

Schon in seiner Jugendzeit hielt er es mit dem Sprechen, als so viele junge Leute ihre Eltern zur Rede stellten: Was habt ihr damals gemacht? Was habt ihr von den Gräueltaten gewusst? Wenn du nicht sprichst, hatte Lothar zu seiner Mutter gesagt, werden die Gespenster nie verschwinden. Aber seine Mutter, eine Frau, die so klein ist, dass die Einkaufstaschen auf dem Boden schleifen, läuft aus dem Zimmer in die Küche, um irgendetwas abzuwaschen und sagt weinend: „Ich schaff das nicht.“

Obwohl sie so viel schafft. Drei Kinder von drei Männern. Seinen Vater, Heinrich Kilger, berühmter Bühnenbildner am Deutschen Theater, sieht Lothar nur sporadisch. Ein vierter Mann kommt, Herr Grätz, der bleibt und die drei Kinder großzieht.

Lothar ist ihm dankbar dafür, im Rückblick jedenfalls. Er selbst lehnt das Wort Erziehung ab. „Ich werde immer auf der Seite der Kinder sein“, sagt er, als er ein eigenes hat, „da könnt ihr machen, was ihr wollt.“ Und doch erzieht er ja, auf seine Weise. Er nimmt Elisa am Abend mit in die Schaubühne, nimmt sie mit aufs Rasterdeck, von dem Lampen und Schnüre hinab zur Bühne hängen: „Sei ganz leise und vorsichtig“, flüstert er, und zusammen beobachten sie die Theaterwelt unter ihnen. Streiten sie, und Elisa findet nicht heraus aus ihrem Zorn, holt er einen Spiegel und hält ihn ihr vors Gesicht, bis sie lachen muss. Hat sie Liebeskummer, fragt er: „Wo ist dein Humor?“ Ruft sie entrüstet: „So eine Scheiße!“, wird er streng: „Es ist doch vollkommen uninteressant, etwas Scheiße zu finden. Das ist schlicht kein Argument“, und sie beginnt nachzudenken. Freunden ergeht es nicht anders. „Wo ist dein Feuer?“, fragt er Erschlaffte, und sie raffen sich auf.

Sie machen weiter mit seinem Salon, haben noch für vier Monate nach Lothars Tod die Miete für die Wohnung in der Skalitzer bezahlt und nun einen neuen Raum gefunden. „Her sin is her lifelessness“, singt Dylan in „Desolation Row“, Lothars liebstem Lied. „Ihre Sünde ist ihre Leblosigkeit.“

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