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Abgespaced. Über Weltraumabenteuer unterhalten sich die Kunden von Wolfgang Tress genauso gerne wie über Politik. Er betreibt die Fantasy-Buchhandlung „Otherland“ in der Bergmannstraße.

© Kitty Kleist-Heinrich

Literatur: Shakespeare und Science-Fiction: Hier treffen sich Berliner Lesefans

Büchertausch, Rollenspiele oder klassische Lesebühnen – die Berliner Literaturszene erinnert an die berühmten Salons des 19. Jahrhunderts.

Der Saal im Kreuzberger Wasserturm ist gut gefüllt. Hunderte Zuhörer sind gekommen, um Alastair Reynolds zuzuhören. Der walisische Starautor liest aus seinem neuen Roman „Revengers“, eine wilde Weltraumoper, ein bisschen hardboiled, ein bisschen komisch, ein bisschen gruselig.

Danach unterhält sich der ganze Saal angeregt über automatische Gliedmaßen und ähnliche Kuriositäten aus der Zukunft. Neben Reynolds sitzt Wolfgang Tress, Mitbetreiber des Science-Fiction-Buchladens „Otherland“ in der nahen Bergmannstraße. Er übersetzt, wenn nötig, und moderiert, wenn die Fachgespräche zu speziell werden.

Das „Otherland“ gilt seit 20 Jahren als Institution für Science-Fiction, Horror und Fantasy. Zusammen mit Jakob Schmidt und Simon Weinert hat Wolf Tress ihn 2013 übernommen. „Uns ging es vor allem darum, dass dieser Ort erhalten bleibt. Eigentlich sind wir mehr eine Community als ein Buchladen“, sagt Tress. Jede Woche finden im kleinen Geschäft Lesungen und Buchgespräche statt, nur wenn Stars wie Reynolds kommen, weicht man auf den benachbarten Saal im Wasserturm aus.

„Wir reden nicht nur über Bücher, sondern auch über Politik"

Bücherlesen ist eine einsame Leidenschaft. Die literarischen Helden, mit denen man viele schöne, spannende Stunden verbracht hat – am Ende muss man sie verlassen. Deshalb ist es schön, über sie zu reden.

„Die Gespräche sind für uns das Wichtigste“, sagt Tress. „Wir reden aber nicht nur über Bücher, sondern über alle möglichen Themen, auch über Politik. In dem Genre geht es nicht nur um Technik, sondern auch darum, gesellschaftliche Ideen und Utopien zu entwickeln.“

"Immer mehr Frauen interessieren sich für Science-Fiction"

Die Klientel im Buchladen ist im Lauf der Jahre weiblicher geworden, sagt Tress. „Ich freue mich, wenn eine junge Frau reinkommt und nach dem Klingonisch-Wörterbuch fragt.“ Diese neue bunte Mischung der Science-Fiction-Fans trifft sich einmal im Monat bei Rollenspielabenden.

Dann werden die Büchertische abgeräumt und in sechs bis acht Gruppen Brettspiele wie „Dungeons & Dragons“ oder „Das schwarze Auge“ zelebriert, dazu kommen immer noch neue Spiele, wie Tress erzählt: „Oft stellen uns die Verlage speziell für den Abend neue Spiele zur Verfügung und freuen sich über Feedback.“

In gewisser Weise sind solche Veranstaltungen zeitgenössische Versionen der literarischen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts, bei denen sich die kulturelle Bohème versammelte. Man trank Tee vor dem Kamin, erlebte Hauskonzerte und private Theateraufführungen, las gemeinsam Lessing, Rousseau oder Shakespeare und ergötzte sich an Gedichten von Diderot.

„Oft traf man sich nach dem Theater, die Zusammenkünfte waren gerne spontan“, sagt Stephanie Kissel. Die Literaturexpertin von der Organisation „StattReisen“ führt Menschen durch Berlin. Ihre Tour „Mit Herz und Verstand“ rund um den Gendarmenmarkt erzählt vom literarischen Leben in den jüdischen Salons.

Salonrunden mit jüdischer Tradition

Als die ersten literarischen Salons um 1800 entstanden, herrschte gerade Frieden in Deutschland, eine gute Zeit für Kultur. Der militärisch geprägte Adel verlor an Bedeutung, das Bürgertum engagierte sich in Wirtschaft, Politik und Kultur. Die Mischung bei den Salonabenden war weltläufig, Bürgerliche trafen auf Adelige, evangelische Theologen auf jüdische Philosophen. Auch ein Preußenprinz zählte zu den Gästen, gebildete Damen von Stand parlierten mit jungen Schauspielerinnen. „Die ungezwungene Begegnung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit war damals etwas sehr Exzeptionelles“, sagt Kissel.

Dass viele der Salons jüdische Initiatorinnen wie Henriette Hertz oder Rahel Varnhagen hatten, ist kein Zufall, wie die Philosophin Hannah Arendt in ihrer Biografie über Varnhagen schreibt: „Gerade weil die Juden außerhalb der Gesellschaft standen, stellten sie für kurze Zeit eine Art neutralen Boden zur Verfügung, auf dem sich die Gebildeten trafen.“

Lesen, spielen, diskutieren - Literatur wird entspannter

Heute treffen sich kulturinteressierte Menschen im Internet. In Foren wie „Groups“ oder „Meetup“ verabreden sie sich: Es gibt Marketingkurse, Tandemmeetings für Italienisch und Deutsch, multikulturelle Chöre oder eben jede Menge literarische Gruppen. „Berlin Book Swap“ etwa ist eine Gruppe, die sich online organisiert und alle zwei Wochen im Café Anna Blume in Prenzlauer Berg trifft.

Die Idee ist schlicht: Bring eines oder mehrere der Bücher mit, über die du gerne sprechen willst, leg sie einfach auf den Tisch und warte ab, wer zugreift. Der Book Swap ist eine kommunikative Tauschbörse, über 2000 Mitglieder haben sich registriert. Rund 50 Menschen nehmen regelmäßig teil. Gelesen und gesprochen wird vor allem Englisch, Deutsch und Französisch.

Lesen, Spielen, Tauschen, Diskutieren – die entspannte Art, wie Literatur heute stattfindet, zeigt auch, welche Rolle sie immer noch in Berlin spielt. Dutzende Lesungen finden wöchentlich statt: in kleinen und großen Buchläden, in Stadtteilbibliotheken, Kulturinstitutionen wie dem Brechthaus oder dem Literarischen Colloquium sowie in schummrigen Kneipen.

Dazu kommen legendäre Lesebühnen wie „Die Surfpoeten“, „Der Frühschoppen“ oder „Die Chaussee der Enthusiasten“, die Woche für Woche ausgebucht sind. Das jährliche „Open Mike“ zieht meist mehr als 1000 vor allem junge Zuschauer an, die im Heimathafen Neukölln Lyrik und Prosa von weitgehend unbekannten Autoren hören wollen.

Dieser Literaturwettbewerb war die erste Bühne für junge Schriftsteller wie Karen Duve, Jochen Schmidt, Terézia Mora und viele mehr. „Rezitieren hilft beim Verständnis von Literatur“, sagt Thomas Wohlfahrt vom „Haus für Poesie“, das die Lesebühne ausrichtet. „Und die Poesie ist eine Kunst, die ein eigenes Instrument braucht. Jedes Gedicht hat einen Klang, der Rhythmus kommt über die menschliche Stimme.“

Treffs für Lesefans

The Otherland: Buchclub zu Science-Fiction, Horror und Fantasy – nächster Termin 17. Januar. Jeden ersten Donnerstag im Monat Rollenspielabend ab 19.30 Uhr, Bergmannstr. 25, Kreuzberg. www.otherland-berlin.de

Berlin Book Swap: Alle zwei Wochen im Café Anna Blume, Kollwitzstr. 83, Prenzlauer Berg, nächster Termin 25. Januar. www.meetup.com/de-DE/BerlinBookSwap

Haus für Poesie: Lesungen, Workshops, Schreibwerkstatt, Knaackstr. 97, Prenzlauer Berg. www.haus-fuer-poesie.org

Open Mike: Jährlicher Wettbewerb, 8. bis 10. November, Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Str. 141. www.openmikederblog.de

Literarische Spaziergänge: Touren von „StattReisen“, unter anderem zu den „Salons der Frauen“. www.stattreisenberlin.de

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