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Berlin: Lilo Fröhlich (Geb. 1920)

„Ich halte doch hier das Weltniveau“

Es gibt Dinge, die möchte man immer bei sich haben. Die Lesebrille, den Schlüssel, Pfefferminzdragées. Sie geben Sicherheit. Lilo Fröhlich hing besonders an ihrem Reisepass. Sie hat viele solcher Pässe besessen, denn sie waren schnell voll gestempelt: mit Ausreisegenehmigungen aus der DDR. An den Übergängen winkten die Grenzsoldaten sie durch, weil sie sie gut kannten.

Sie war Österreicherin, so stand es jedenfalls in ihrem Pass. Aus dem Westen brachte sie ihren vielen Freunden Kosmetiksachen, Jeans und auch mal Medikamente mit. Wünsche abschlagen gehörte nicht zu ihren Stärken. Aber einmal gelang es ihr doch ohne langes Zögern: Da standen ein paar Männer vor ihrer Wohnungstür in Pankow und baten sie, ein paar Dinge von hohem Wert in den Westen zu schmuggeln. „Nein, da haben Sie doch bessere Verbindungen“, sagte sie. Das mussten Stasileute sein, da war sie sich gleich sicher.

Größere Probleme mit dem Regime bekam sie nie – sonst wäre sie weggegangen. Aber daran hatte niemand Interesse, sie nicht und die DDR nicht.

Ihr Optiker-Geschäft in der Mittelstraße nahe Unter den Linden führte sie ganz ohne staatliche Beteiligung, und sie hatte mehr Kunden, als sie bedienen konnte. Stundenweise musste sie den Laden abschließen, um in Ruhe in der Werkstatt arbeiten zu können. Den Mitarbeitern vom VEB Carl Zeiss Jena brachte sie Geschenke aus der Hauptstadt mit und bekam dafür schneller gute Gläser. Ihren zahlungskräftigen Kunden besorgte sie schicke Gestelle aus dem Westen, und das sprach sich herum. Diplomaten kamen zu ihr, auch weil sie fließend Englisch und Französisch sprach. Es kam sogar ein Auftrag von Walter Ulbricht. Auch ihm besorgte sie im Westen ein Gestell. Als sie dem Staatsratsvorsitzenden die neue Brille auf die Nase setzte, bewachten Polizisten ihr Geschäft. Das Westgestell zierte Ulbrichts Profil auch auf einer Briefmarke der DDR-Post. Woher es stammte, hat er nie erfahren.

Sich selbst gönnte Lilo Reisen. Sie besuchte Verwandte in Österreich und Norwegen, ihre Schwester in der Schweiz und eine Freundin in Texas. Im Sommer nahm sie sich vier Wochen frei, im Winter fuhr sie Ski.

Lilos Vater war Wiener und hatte eine Deutsche geheiratet. Er ging 1919 mit ihr nach Berlin und eröffnete ein Geschäft „Optiker Fröhlich“ in der Leipziger Straße. Doch seine Staatsbürgerschaft wollte er nicht aufgeben. Lilo und ihre Schwester wurden deshalb als Österreicherinnen in Pankow geboren. Der Vater spielte seinen Mädchen auf der Zither vor und schickte sie und die Mutter in die Sommerfrische nach Usedom. Er bezahlte Sprachreisen und Skiurlaube. Selbst in den Kriegsjahren zwischen 1939 und 1942 verreiste die Familie in die Ferien.

Das Optiker-Geschäft wurde ausgebombt, und Herr Fröhlich eröffnete ein neues in der Mittelstraße. Lilos Schwester zog mit ihrem Mann in die Schweiz, Lilo arbeitete als Chefsekretärin in der Propyläen-Kunsthandlung. Dann machte sie ihr Dolmetscherdiplom, sie wollte nach Paris. Ihr Freund, ein angehender Diplomat, bat sie, ihn nach Manila zu begleiten und zu heiraten. Aber dazu kam es nicht, weil ihr Vater einen Schlaganfall erlitt. Jetzt hieß es: „Lilo, du musst das Geschäft übernehmen.“ So verzichtete sie auf Paris und Manila und machte 1956 ihre Optikerprüfung. Auf ihre österreichische Staatsbürgerschaft und ihren Pass verzichtete auch sie aber nie und konnte jederzeit im Westen einkaufen und Sonderwünsche erfüllen. Selbstbewusst beschrieb sie ihre Sonderrolle: „Die können mich gar nicht gehen lassen, ich halte doch hier das Weltniveau.“

Jahrelang versorgte sie neben der Arbeit ihre Mutter, die dement wurde. 1984 verkaufte sie das Geschäft an ihre Mitarbeiter und zog um nach West-Berlin. Oft fuhr sie in die Schweiz zu ihrer Schwester. Die war inzwischen verwitwet und krank und bat um Lilos Hilfe.

Eine eigene Familie zu gründen – dafür fehlte Lilo vielleicht die Zeit, vielleicht auch die Lust. Das Geschäft, die Eltern, die Schwester, war das nicht genug für so ein Leben? Dass es zu wenig gewesen sein könnte, ist jedenfalls nicht überliefert. Maria Hufenreuter

Maria Hufenreuter

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