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Berlin: Lieselott Mertins (Geb. 1909)

„Wir waren die ersten, die Urlaub bekamen, bezahlten Urlaub“

Hundert Jahre Leben. Der erste Weltkrieg und der zweite, die Berlin-Blockade, der Mauerbau und der Mauerfall. Hundert Jahre Erinnerung. Der Vater starb 1915 als Lazarettinspektor an Fleckfieber, da war Lieselott sechs Jahre alt. Ihre Mutter, allein mit zwei Kindern und in finanzieller Not, zog von Swinemünde nach Stettin und schließlich nach Berlin.

„Da tobte der Bär in Berlin, da war ja viel los. Wie hast du Berlin empfunden, als du aus der Kleinstadt in diese große Stadt gekommen bist?“ So lautet eine Frage in einem Interview, das sie mit hundert gibt. „Es ging ja nur darum, hier existieren zu können“, antwortet sie. Kein Charleston, keine glitzernden Kleider. Enge möblierte Wohnungen, lange Wege zu Fuß zu den Arbeitsstellen, in der Mensa einer Hochschule, in der Konditorei Adler. Aber dann eine einmalige Möglichkeit: die Anstellung als „Saaltochter“ in der Kantine des Bankiers Franz von Mendelssohn.

In schwarzem Satinkleid und weißer Schürze servierte sie die Mahlzeiten, brachte auf einem Tablett mit Tragegurt den Kaffee in die Büros, und am Monatsende gab es „einen schönen Schein für mich. Und wir waren die ersten Arbeitnehmer, die Urlaub bekamen, bezahlten Urlaub.“ Nach knapp drei Jahren hörte Lieselott auf bei Franz von Mendelssohn: „Als Verheiratete hat er keine mehr beschäftigt.“ Aber ein Abschiedsgeschenk überreichte er ihr, ein zwölfteiliges Rosenthaler Porzellanservice.

„Können wir das mal sehen?“, fragen die Interviewer. – „Da müsst ihr nach Liebsgen fahren und buddeln.“

Seit 1943 hatten die Fliegerangriffe zugenommen. Von der Neuköllner Wohnung blieb nichts übrig, kein einziges Foto, alle Erinnerungsstücke waren verloren. Lieselott floh mit den drei Kindern in ein Dorf in der Lausitz, ihr Mann arbeitete weiter in Berlin. Doch Bomben fielen bald auch in der Lausitz. Wieder brannte das Haus. 1945 kam die Rote Armee. Die Mertins vergruben das Service und flohen erneut, in Richtung Dresden diesmal. Von Radebeul aus sahen sie den glühenden Himmel über der Stadt. Fast zeitgleich traf eine Bombe den Bahnhof in Cottbus, auf dem ihre Mutter stand.

Lieselott wollte zurück nach Berlin. Aber nach Berlin durfte man nicht. Ohne Wohnung keine Zuzugserlaubnis. Doch die Schrebergartenlaube in Neukölln stand noch. Fünf Monate lebten sie dort, bis es zu kalt wurde. Sie fanden eine halbzerstörte Wohnung im vierten Stock direkt am Flughafen Tempelhof. Ein Zimmer und die Küche hatten keine Decke. Nachts, bei Regen, lagen sie unter einem aufgespannten Schirm. Tags fuhr Lieselott in die Umgebung, kam zurück mit ein paar Kartoffeln, Rüben und einmal auch mit zwei Kaninchen, Max und Moritz, die von den Kindern mit Löwenzahn gefüttert wurden, die plötzlich aber wieder verschwunden waren. Und während alle aßen, endlich ein Stück Fleisch, erzählte Lieselott die Geschichte, wie sie den Kaninchen noch hinterher gerannt sei, sie aber nicht mehr habe einfangen können.

Nie schimpfte Lieselott mit ihren Kindern, nie verhängte sie Strafen. Sie war stark. Verkaufte ab fünf Uhr morgens Zeitungen am Bahnhof Hermannplatz, um ihrem Sohn ein Studium finanzieren zu können, so lange, bis er seinen Abschluss hatte. Sie sprach nicht viel, hörte aber zu, ihren Kindern und ihren Enkelkindern, die zu ihrer alten Großmutter kamen, wenn sie Rat brauchten.

Immer wollte Lieselott in Berlin bleiben, nie gehen, nicht während der Blockade, nicht nach dem Bau der Mauer. Als ihr Mann ein Angebot in Brasilien bekam, entschied sie: „Wir bleiben hier.“ Als ihr Sohn für einige Jahre in die USA ging, besuchte sie ihn zwar, spazierte am Strand entlang, fuhr allein nach New York und bestieg das World Trade Center. Das Angebot zu bleiben aber lehnte sie ab.

„Ich komme zwar nicht aus Berlin, aber ich bin stolz, eine Berlinerin geworden zu sein“, sagt sie am Ende des Interviews, nach hundert Jahren Leben. Tatjana Wulfert

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