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Leichenfund: Keine Spur von Rosa Luxemburg

Monatelang suchte Rechtsmediziner Michael Tsokos nach DNA-Proben der 1919 ermordeten Kommunistin. Doch das Rätsel um den Torso, der jahrzehntelang in der Charité lag, bleibt wohl ungelöst.

Luftholen. Durchatmen. Ruhig bleiben. Als die Ergebnisse der DNA-Analyse auf dem schweren Holzschreibtisch von Michael Tsokos liegen, zerschlägt sich die Hoffnung der letzten Monate. Im Idealfall hätte dies der Moment der Gewissheit sein sollen. Doch die Buchstaben, die sich auf dem Papier in unerbittlicher Deutlichkeit aneinanderreihen, halten sich nicht an das Skript, das diesem Film ein vorzeitiges Happy-End bescheren sollte. Sie sagen: Die untersuchten Proben können das Rätsel nicht lösen. Michael Tsokos sagt: „Ich weiß nicht, was ich gerade denken soll. Offenbar soll es so einfach nicht sein.“ Er sitzt in seinem Büro in Moabit und schweigt.

Rückblende. Anfang Juni fliegt Michael Tsokos, 42, Chef der Berliner Rechtsmedizin, nach Warschau. Im dortigen Zentralarchiv will er die Herbarien der 1919 ermordeten Rosa Luxemburg auf DNA-Spuren untersuchen. Er hofft, damit einen Beweis erbringen zu können: dass es sich bei dem Torso, der jahrzehntelang unbeachtet in einer Glasvitrine im Keller des Instituts für Rechtsmedizin gelegen hat, um den Leichnam der berühmten KPD-Mitbegründerin handelt. Tsokos trägt an diesem Morgen ein kariertes Hemd zur Jeans, einen leichten Sommermantel und in der Hand eine braune Reisetasche. Darin befinden sich Dutzende sterile Wattetupfer, Mundmasken und Hauben, die er für seine Spurensicherung braucht.

Als der Flieger kurz vor zehn landet, nieselt es. In der großen, kühlen Wartehalle steht Holger Politt, Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau. Ein hagerer Mann mit entschlossenem Händedruck. Er hat sich an Tsokos gewandt, nachdem er aus der Presse von dem Fall erfahren hatte. Politt war es auch, der den Kontakt zum „Archiwum Akt Nowych“ hergestellt und den Besuch organisiert hat. Ein Taxi bringt die beiden zu dem runden Gebäude aus hellem Sandstein, das sich im Zentrum der Stadt zwischen grauen Plattenbauten befindet. Am Eingang wartet bereits ein Fernsehteam des RBB, das Tsokos Spurensuche dokumentieren will. Mit welcher Hoffnung er nach Warschau gekommen sei, fragt die Reporterin. „Als Gerichtsmediziner halten sich große Hoffnungen in Grenzen“, antwortet Tsokos. Sollte diese Spur ins Leere führen, ginge für ihn die Welt nicht unter. „Dann mach’ ich halt weiter mit der Spurensuche.“

An Aufhören ist jetzt ohnehin nicht mehr zu denken. Im Mai wandte sich Tsokos mit seiner Theorie an die Öffentlichkeit. Demnach kann es sich bei dem Leichnam, der 1919 aus dem Landwehrkanal gezogen und in Wünsdorf obduziert wurde, nicht um den von Rosa Luxemburg gehandelt haben. Dafür weise das Obduktionsprotokoll zu viele Ungereimtheiten auf. Dafür weise die aufgetauchte Fettwachsleiche, die Tsokos genau untersuchen ließ, zu viele Ähnlichkeiten auf mit anatomischen Besonderheiten, die der Weggefährtin Karl Liebknechts zugeschrieben wurden – etwa eine schiefe Hüfte, die Luxemburgs berühmten watschelnden Gang erklären würde. Und auch die Altersbestimmung des Torsos mit der sogenannten C-14-Methode ergab, dass er aus jener Zeit stammt.

Seit Tsokos’ Behauptung melden sich immer mehr Menschen mit Hinweisen, bislang sind es mehr als 100. Ungefähr der Hälfte ist Tsokos nachgegangen. Die meisten führen ins Leere. Wie zum Beispiel der Brief einer Frau, die von einem Buch schreibt, von Goethes Faust, das sie in einem Antiquariat gekauft hat. Dieses Exemplar, so will sie wissen, soll Rosa Luxemburg einst auch gelesen haben. Weil sich in ihrem Buch ein zum Lesezeichen umfunktioniertes Kalenderblättchen von 1919 befunden hat, nimmt die Schreiberin des Briefes an, dass es sich um Luxemburgs Privatausgabe handeln könnte. Und bietet Tsokos an, es für seine Spurensuche zur Verfügung zu stellen. „Das ist natürlich nett gemeint, aber nicht zielführend“, sagt der Rechtsmediziner.

Vielversprechender hingegen ist der Besuch bei Wanda Bienkowska in Warschau. In ihrem kleinen Büro im sechsten Stock des Zentralarchivs trägt die Archivarin mit den kinnlangen roten Haaren und den eleganten Perlenohrringen dem Gast aus Deutschland eine blaue Schachtel mit den Herbarien entgegen. Tsokos streift seine Gummihandschuhe über, zieht Maske und Mundschutz an. Als er den abgwetzten Pappkarton entgegennimmt und vor sich auf den Tisch stellt, wirkt der Moment fast ein wenig feierlich. „20 Jahre lang liegen die Herbarien schon hier“, sagt Wanda Bienkowska, „bislang hat sich kaum jemand für sie interessiert.“ Mitte der 70er Jahre seien sie aus einer Privatsammlung in den USA hierher gekommen. Aus einigen Metern Abstand beobachtet die Archivarin, wie Michael Tsokos die Schachtel mit den zerfledderten Ecken öffnet.

18 Hefte befinden sich in dem Karton. Der erste Band ist mit schwarzer, nach rechts geneigter Schrift auf den 11. Mai 1913 datiert, der letzte auf den 13. Oktober 1918, auf dem Aufkleber vorne steht „Breslau Strafgefängnis“ – drei Monate später war Luxemburg tot. Eingeklebt sind Blätter und Blüten, zum Teil noch sehr gut erhalten und in leuchtenden Farben. Jedes Exemplar ist sorgfältig beschriftet und dokumentiert. „Roter Hornstrauch“, steht da und der lateinische Name „Cornus Sanguinea“. Einzeln blättert Michael Tsokos die Hefte durch, fährt mit den Wattetupfern behutsam über die Seiten, um die Tinte nicht zu verwischen. „Historiker haben sich immer mit ihren Schriften beschäftigt“, sagt er, „aber hier, mit den Herbarien, offenbart sich ein völlig neuer Blick auf ihre Persönlichkeit.“ Nach gut anderthalb Stunden ist er fertig. Fast 40 Röhrchen mit Wattestäben verstaut er in seiner Tasche. Wanda Bienkowska bringt zum Abschied einen Cognac und sagt, sie hoffe, dass die Untersuchung weiterhelfen wird. Michael Tsokos fliegt mit den Proben zurück nach Berlin.

Dort muss Marion Nagy die Hoffnung Wanda Bienkowskas leider zerstören. Die Molekularbiologin, die am Institut für Rechtsmedizin in der Abteilung für Forensische Genetik arbeitet, hat die Proben untersucht. Als die Ergebnisse nach mehreren Wochen des angespannten Wartens feststehen, sagt sie: „Wir haben ganz starke männliche Peaks.“ Die Spuren, die Tsokos an den Herbarien sichergestellt hat, stammen ausschließlich von Männern und können deshalb nicht mit dem DNA-Profil der Fettwachsleiche aus dem Keller verglichen werden. Und auch der Abgleich mit der Probe eines angeblichen Neffen Luxemburgs, der in Vilnius lebt und heute 95 Jahre alt ist, hilft nicht weiter. „Verwandtschaftlich gesehen ist das zu weit entfernt“, sagt Marion Nagy, „dabei würde man eine Übereinstimmungswahrscheinlichkeit von vielleicht 60 Prozent erhalten. Das ist viel zu wenig.“ Aus diesem Grund hilft auch die DNA-Untersuchung einer angeblichen Großnichte aus Israel nicht weiter.

Michael Tsokos hofft weiterhin auf einen Treffer, der ihm eine Übereinstimmung von 99,9 Prozent liefert. Darum will er weiter nach Spuren suchen. Vielleicht meldet sich doch noch jemand, der irgendwo auf einem Dachboden ein Originalkleidungsstück von Rosa Luxemburg aufbewahrt, an dem sich eventuell ein Haar befindet oder eine Hautschuppe. Eine Kleinigkeit. Irgendwas. Michael Tsokos sagt, er mache weiter, so klein könne eine Kleinigkeit für ihn gar nicht sein.

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