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Auf Abstand. Die Zahl der Schüler in einer Klasse ist begrenzt in diesen Coronazeiten.

© Kitty Kleist-Heinrich

Lehrermangel, Raummangel, Digitalisierungsstau: Warum Berlin sich gedrittelte Klassen nicht mehr leisten kann

Berlins Schule gleicht einem Kartenhaus im Coronasturm, aber falsche Rücksichten machen die Lage nicht besser. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Vieth-Entus

Berlin läuft zur Hochform auf. Zu sehen sind: Lehrkräfte, die als Fahrradkuriere Hausaufgaben zu nicht vernetzten Schülern bringen. Sozialarbeiter, die nach abgetauchten Kindern suchen. Schulleiter, die ihre Gremien im Tagesrhythmus über die Lage informieren. Und Eltern, die zu Lernmanagern werden. Berlin macht das, was es am besten kann: Es improvisiert.

Es muss schon einiges passieren, damit es zu Unmutsäußerungen kommt, die oberhalb des üblichen Gemäkels liegen. So ein Punkt war diese Woche erreicht, als der Senat abrupt entschied, den Kitabetrieb erheblich hochzufahren und die Erst- und Siebtklässler quasi über Nacht zurück in die Schulen zu holen. Seither ist sie da – die Schieflage zwischen den Hygienevorschriften einerseits und den Menschenmassen andererseits.

Jede einzelne Kita und Schule muss sich nun herauswinden aus dieser vertrackten Lage, die ohne Not herbeigeführt wurde. Es wird ein paar Tage erheblich holpern, bis alle neuen Konzepte greifen. Und es wird bitter für die Eltern sein, die dann werden erkennen müssen, dass ihnen die 90 oder 120 Minuten Erstklässlerunterricht nicht viel bringen bei ihrem Versuch, in die Berufstätigkeit zurückzukehren.

Gleichzeitig werden sie aber merken, dass auch wenige Stunden ihren Kindern dabei helfen werden, den Fokus wieder mehr auf das Lernen zu richten.

Gedrittelte Klassen kann Berlin sich nicht mehr leisten

Berlin muss alle Möglichkeiten ausreizen, seine Kinder zurückzuholen. Denn nirgendwo sonst in Deutschland sind derart viele Kinder und Jugendliche auf Anregung und Hilfe von außen angewiesen: Mehr als jede dritte Schule hat über 50 Prozent Kinder, die von Sozialtransfers leben.

Was bringt es, Klassen wegen des Sicherheitsabstands zu dritteln, wenn dieselben Kinder dann doch im Pulk vor der Schule und an der Bushaltestelle zusammenrücken?

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Anspruch und Wirklichkeit sollten in Einklang gebracht werden: Berlin kann sich keine gedrittelten Klassen leisten – weder personell noch räumlich.

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Ebenso wenig kann Berlin es sich leisten, auf alle Lehrer und Erzieher jenseits der 60 in Schule und Kita zu verzichten: Dieses allzu kulante Angebot aus der ersten Zeit der Krise muss für alle, die keine weiteren Krankheiten haben, zurückgenommen werden. Schließlich gilt es in anderen gefährdeten Berufsgruppen auch nicht.

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Stattdessen muss Berlin alle Ressourcen zusammenraffen, um nicht nach den Ferien in einem herbstlichen Albtraum zu erwachen. Denn dann wird es noch mehr Schüler geben. Wo sollen sie hin? Es werden auch all die unversorgten Schulabgänger vor den Türen der Berufsschulen stehen, die durch den absehbaren Wegfall von Lehrstellen auf eine rein schulische Ausbildung angewiesen sein werden. Und es wird viel mehr Klassenwiederholer geben, weil Lernstoff fehlt – auch das „frisst“ Personal.

Ein Kartenhaus, das in Sturm gerät

All das trifft auf ein System, das schon vor Corona krank war: durch Lehrermangel, Raummangel, Sanierungsnot, Digitalisierungsstau. Insofern ist Berlins Schule besonders schlecht für die Krise gewappnet – ungefähr so schlecht wie ein Kartenhaus, das in Sturm gerät. Mehr Schüler als sonst werden in diesem Coronasturm verloren gehen.

Um ihre Zahl zu begrenzen, müssen die Verwaltungen auftauchen aus der Versenkung ihrer Homeoffices, damit all das Geld, das es für Digitalisierung, häusliche Lernangebote und für die Schulbauoffensive gibt, auch ankommt bei denen, die es brauchen. Sonst ist die Lehrkraft, die Fahrradkurier, Digitalmanager und Pädagoge zugleich sein soll, verschlissen, bevor der Herbst kommt.

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