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 Benjamin Baltruschat kann nach nur vier Monaten in der Reha-Klinik in Pforzheim wieder am Rollator gehen.

© Saara von Alten

Laufen statt Rollstuhl: Und er bewegt sich doch

Er werde nie wieder laufen können, sagten die Ärzte. Die Kasse bezahlte einen Rollstuhl, aber nicht die Therapie. Benjamin Baltruschat wollte das nicht hinnehmen. Die Geschichte einer Auferstehung.

Seine Arme sind auf einen Rollator gestützt, auf der Stirn bilden sich Schweißperlen. Mit einem Ruck zieht Benjamin Baltruschat seinen rechten Oberschenkel nach oben. Das Bein wackelt hin und her. Es vergehen Sekunden, bis er den Fuß nach vorn setzt. Dann folgt das zweite Bein. Baltruschats Schritte sind langsam.

Es sind seine ersten seit 13 Jahren. Erdrückend schwül ist es an diesem Augusttag im Zentrum für Rehabilitation, das im baden-württembergischen Pforzheim auf einem Hügel liegt. Benjamin Baltruschat trägt Jogginghose und T-Shirt. In den vergangenen Wochen hat sich der 34-jährige Berliner einen Bart wachsen lassen. Wie sich sein Körper anfühlt?„Das ist so, als ob die Leitungen wieder offen sind. Wie ein verrosteter Motor, der nach Jahren wieder anspringt.“ Es rußt noch ganz schön.

Ein Ventilator bläst Benjamin Baltruschat kühle Luft ins Gesicht. Seit fast vier Monaten ist er in Pforzheim. „Ich wollte mir und allen anderen beweisen, dass da sehr wohl was geht“, sagt er. Alle anderen, das sind vor allem die Ärzte, die immer gesagt haben, er solle sich auf ein Leben im Rollstuhl einstellen. An den 27. Februar 2002 erinnert sich Baltruschat genau. Es ist ein Mittwoch. Der damals 21-Jährige geht an diesem Tag – wie jede Woche – zum Football-Training. Er ist der Runningback der Spandau Bulldogs. Er trägt Helm und Schulterpolster. Für eine Übung muss er sich auf den Boden legen. Den Ball hält er fest in den Händen. Auf den Pfiff hin springt er auf und rennt los. Er ist schnell, einer der Talentiertesten, sagen Freunde.

Er mag Football, bis beim Training das Unglück passiert

Er liebt es, seine Kräfte mit anderen zumessen. Doch an diesem Tag ist Benjamin Baltruschat so schnell, dass er seinen Gegenspieler übersieht und in ihn hinein knallt. Die Köpfe der beiden stoßen mit voller Wucht gegeneinander. Baltruschat fällt zu Boden. „Ich hatte keine Schmerzen, dachte nur, ich falle“, sagt er. „Mein Gefühl in Armen und Beinen verschwand langsam.“ Seine Erinnerung setzt wieder ein, als sich eine Psychologin zu ihm übers Krankenbett beugt. „Sie werden nie wieder laufen können.“ Das war ihr erster Satz. Baltruschat möchte widersprechen, aber kann nicht.

Er wird künstlich beatmet. Nur ganz leicht kann er den Kopf bewegen, von links nach rechts, wieder und wieder: nein! Beim Zusammenstoß hatte er sich seinen fünften Halswirbel gebrochen und das Rückenmark gequetscht. Inkomplette Querschnittlähmung der Klassifikation ASIA B lautet die Diagnose. Inkomplett bedeutet, dass nicht alle Nerven durchtrennt worden sind. Einzelne Nervenfasern sind noch intakt. Unterhalb der Brust kann er seine Muskeln nicht mehr bewegen. Er kann aber Kälte und Wärme empfinden, und spürt, wenn ihn jemand berührt. In der Zeit vor seinem Unfall finden ihn die Mädchen toll, gucken ihm hinterher. „Ich habe früh viele Freundinnen gehabt und jede Menge Mist gebaut“, sagt er. In der Schule läuft es nicht so gut. Immer

wieder gibt es Ärger mit Lehrern. Nach der zehnten Klasse muss er die Gesamtschule mit einem erweiterten Hauptschulabschluss verlassen. An den Wochenenden zieht er von Party zu Party. In Zehlendorf, wo er wohnt und zur Schule geht, gibt es keine Clubs, dafür jede Menge private Feiern. In Häusern von Freunden, in den Sportklubs oder bei der Freien Universität. Baltruschat ist einer, der auch mal dann erscheint, wenn er nicht eingeladen ist. Er und seine Freunde tanzen nicht, sie trinken viel Alkohol. Manchmal prügeln sie sich. Heute ernährt sich Baltruschat am liebsten von Gemüsesäften, liest viel, postet im Internet Videos gegen Tierquälerei.

Nach dem Unfall stürzt sein Leben ins Chaos

Seine Vergangenheit ist ihm unangenehm. In dem Jahr vor seinem Unfall sei er dabei gewesen, sein Leben neu zu ordnen, erzählt er. Er hatte eine feste Freundin und wollte auf dem Berlin-College sein Abitur nachholen. Stattdessen stürzt sein Leben nach dem Unfall ins Chaos. Acht Monate verbringt er im Krankenhaus. Nach Hause kann er nicht zurück. Die Wohnung, in der er mit seiner Mutter und dem zwei Jahre jüngeren Bruder lebte, liegt im dritten Stock. Einen Fahrstuhl gibt es nicht.

Also zieht Baltruschat in eine behindertengerechte Wohnung in Zehlendorf-Mitte. Für eine Stunde pro Tag kommt ein Pfleger vorbei. Aber Baltruschat kann sich nicht einmal alleine hinlegen oder auf die Toilette gehen. Also ist er auf die ständige Hilfe seiner Geschwister und seiner Mutter angewiesen. Sie müssen ihm auch das Geschirr aus dem Schrank holen und abends wieder einräumen. Da versteht Baltruschat, der sich nie etwas verbieten lassen hat, was es heißt, behindert zu sein. Freunde möchte er nicht sehen, von seiner Freundin trennt er sich noch im Krankenhaus. Er spürt, dass sie nur noch aus Mitleid kommt, sich eine Beziehung mit einem Behinderten nicht vorstellen kann. Nicht in demAlter. Sie ist damals 19. Baltruschat zieht sich zurück.

In Thailand reitet er auf einem Elefanten

Er liest Science-Fiction-Romane, hört Hörbücher und zeichnet viel. Trotz der Schwierigkeiten, überhaupt einen Stift halten zu können. Und immer wieder hat er diese depressiven Phasen. „Manchmal ist er nach vorn umgekippt“, erzählt ein Freund. Dann saß er einfach nur so da, mit dem Kopf auf der Tischplatte und jeder wusste, dass man ihn erstmal nicht ansprechen durfte. Es hat fünf Jahre gedauert, bis es ihm langsambesser ging. Bei der Physiotherapie lernt Baltruschat, seine Arme wieder zu bewegen. Er macht seinen Führerschein, eine Ausbildung zum Mediengestalter und kommt wieder zu Geburtstagsfeiern.

Auf einer Thailandreise reitet er auf einem Elefanten. Danach muss ihn sein Bruder 100 Meter durch den Dschungel tragen. „Quer durch einen Fluss und schon nach der Hälfte hatte er keine Kraft mehr“, sagt Baltruschat. Er kauft sich ein Handbike für seinen Rollstuhl und ist damit so schnell wie mit einem Fahrrad. Wenn der Fahrstuhl am S-Bahnhof mal wieder kaputt ist, kann er zur nächsten Haltestelle fahren. Er mag das Gefühl, wieder eine Art Sport zu machen. Er hat gelernt mit dem Rollstuhl zu leben. Aber er hat sich nie mit diesem Leben abgefunden.

Sick of Wheels: „Ich habe keinen Bock mehr auf den Rollstuhl“

Im Juli vor einem Jahr setzt er sich an seinen PC und beginnt zu tippen. „Ich habe keinen Bock mehr auf den Rollstuhl“, schreibt er. Auf Englisch: „Sick of Wheels“. So nennt er seinen Crowdfunding-Aufruf, den er auf der Internetplattform Indigogo postet. Er will Geld sammeln für eine Therapie, die ihm helfen könnte. Er hat von jener Reha-Einrichtung in Pforzheim gehört, mit der gelingen soll, was die Ärzte ihm ausreden wollten. Das Problem: Sechs bis acht Stunden Therapie pro Tag plus Verpflegung und Unterbringung kosten die ersten drei Monate 66 000 Euro.

Die Rentenkasse lehnt den Antrag zur Kostenübernahme ab, weil kein Belegungsvertrag mit der Einrichtung in Pforzheim besteht. Sie verwies ihn an eine andere Klinik in Brandenburg. Dort war er aber schon einmal. Laufen lernte er nicht. Er saß fast den ganzen Tag nur herum. „Ich brauche Eure Unterstützung“, tippt Baltruschat weiter. Es ist sein Aufruf an alle Nutzer im Netz. Er veröffentlicht ein Video, entwirft ein Logo, druckt Flyer und Aufkleber, um sie in der Stadt zu verteilen. Schnell bekommt er die ersten 21 000 Euro zusammen. Es sind am Anfang hauptsächlich Verwandte und Bekannte, die spenden. Ein Tagesspiegel-Aufruf bringt weitere 7000 Euro, es folgt ein Benefizpokerturnier der Spielbank Berlin, bei dem der Turmspringer und Olympiasieger Patrick Hausding 6500 Euro für ihn gewinnt. Als er am 26.April mit seinem jüngeren Bruder nach Pforzheim aufbricht, fehlen ihm noch 8000 Euro, die er sich notfalls von einer Freundin seiner Mutter leihen möchte. „Auch wenn es Zweifler gibt.

Nach vier Monaten macht er seine ersten wackeligen Schritte

Ich glaube fest daran, dass du das packst“, sagt sein Bruder im Auto. Am 27. April 2015, es ist sein erster Tag in Pforzheim, steht Baltruschat in einem Lokomaten, einem Gang-Roboter. In einer Art Klettergurt sind seine Beine an Geräten befestigt und mit Hilfe der Maschine geht Baltruschat über das Laufband. Zum ersten Mal seit Langem spürt er wieder Gewicht auf seinen Füßen. „Das fühlt sich angenehm an“, sagt er. Bis zu diesem Moment sind 13 Jahre vergangen. Vom Beginn des Trainings bis zu den ersten wackeligen Schritten dauert es nicht einmal vier Monate. Pforzheim gegen Ende dieses Sommers. Baltruschat steht angelehnt an eine Liege. Er soll eine Bank hoch und runter drücken, Kraftübung. Die Übung fällt ihm nicht so schwer wie das Laufen. Trotzdem kann er dabei nicht sprechen. Für jede Bewegung im Unterkörper konzentriert er sich, um die Muskeln anzusteuern. Die verbliebenen Nervenfasern müssen die Aufgaben der durchtrennten Nerven übernehmen.

Noch vor Therapiebeginn war sein Körper abwärts der Brust vollkommen schlaff. Es ist keine Wunderheilung. Baltruschats Therapeut Marco Dorschner sagt: „Das Besondere bei uns ist, dass wir unsere Patienten, obwohl sie nicht laufen können, gleich hinstellen.“ So bekomme das Gehirn Input, die Körperspannung erhöhe sich. Läuft. So einfach?

Die Behandlung im Krankenhaus ist für viele Patienten eine Enttäuschung

Hamoun Kamai, der ebenfalls in Pforzheim lebt und von den Schultern abwärts gelähmt ist, weiß, dass die Lage komplexer ist. Mit seinem Verein, der Stand Up Initiative, hat er sich neun Jahre lang für die Bedürfnisse querschnittgelähmter Menschen eingesetzt. Dann musste er sein Projekt im Juli einstellen. Bis dahin hat er geholfen, Kassenleistungen zu erstreiten, oder mit Spendengeldern höherwertige Rollstühle finanziert. Kamai kennt Baltruschat und viele andere Querschnittpatienten, die in Pforzheim trainiert haben. „Nicht alle lernen dort laufen, doch immer ging es den Patienten besser als vorher“, sagt er. Für jemanden, der bis zum Hals gelähmt ist, sei es schon ein großer Erfolg, sich allein im Bett umdrehen zu können.

Benjamin Baltruschat war das mehr als ein Jahrzehnt verwehrt und Kamai hat einen Verdacht, woran das liegen könnte. „Die Ärzte stehen unter Druck, weil die Kassen die Patienten immer früher entlassen wollen“, sagt er. Die Priorität liege darauf, die Menschen auf ein behindertengerechtes Leben vorzubereiten. Die Behandlung im Krankenhaus sei dann für viele eine Enttäuschung. „Als Patient hat man Bilder im Kopf, von Leuten, die an einem Barren stehen und wieder laufen üben. Man denkt, man bekommt ein intensives Trainingsprogramm mit fünf bis sechs Stunden täglich.“ Diese Illusion werde einem schnell genommen. „Neben einer halben Stunde Physiotherapie, vielleicht noch einer halben Stunde Ergotherapie, passiert da nichts weiter“, sagt Kamai. Intensive Betreuung ist teuer. Dazu kommt, dass die Hersteller medizinischer Geräte ordentlich mitverdienen. So ein Lokomat, wie Baltruschat ihn nutzen durfte, kostet etwa 150000 Euro. Mehr als eine gewöhnliche Reha-Praxis investieren kann. Und nicht jeder hat die Energie, sich seine Behandlung im Internet durch Spenden finanzieren zu lassen.

Sein Wunsch passt nicht zu einer Inklusionskampagne

Für seinen Aufruf hat Baltruschat auch Kritik einstecken müssen. Auf der Facebookseite eines Bekannten schrieb jemand wütend, mit seiner Aktion rede er allen anderen das Leben im Rollstuhl schlecht. Baltruschat, der gegen seinen Rollstuhl ankämpft, passt eben nicht gut in eine Gesellschaft, die sich gerade erst an Inklusion gewöhnt hat. Er passt nicht zu dem Bild von dem lächelnden Rollstuhlfahrer, dessen einziges Problem die Barrieren sind, die andere ihm in den Weg legen. Ende Juli ist Baltruschat für eineWoche in Berlin. Er hat seine Therapie unterbrochen, um sich zu erholen. Er öffnet die Tür zu seiner Dreizimmerwohnung in Zehlendorf.

Ein 90er-Jahre-Bau. Im Bad befindet sich anstatt einer Badewanne ein Duschrollstuhl. Im Schlafzimmer steht ein riesiger Kleiderschrank ohne Türen. Bis eben war eine Pflegekraft bei ihm. Anziehen, duschen, das sind die Dinge, für die er noch Unterstützung braucht. „Früher musste immer meine Mutter, Schwester oder mein Bruder bei mir übernachten– das hat genervt“, sagt er. Seit dem er seine Arme durch das viele Training besser bewegen kann, kommt er seit mehreren Jahren ganz gut alleine zurecht. Er schiebt seinen Rollstuhl in die Küche, um noch kurz die Blumen zu gießen. Nur mit Mühe kommt er an die Töpfe. „Wenn dir immer jemand hilft,

fehlt dir die Motivation alleine zurecht zu kommen.“ Er wohne auch deshalb alleine, um zur Selbstständigkeit gezwungen zu sein. In seinem Arbeitszimmer zirpen Grillen. Die Nahrung für seine zwei Geckos, die sich in einem kleinen Terrarium hinter grünen Pflanzen verstecken. Er hat noch einen Hund, der bei seiner Mutter lebt. Seine Katze ist vor wenigen Monaten gestorben. „Ich wusste, dass ich viel Zeit in der Wohnung verbringen würde, und wollte nicht alleine sein“, sagt er.

Bisher hat sich die Krankenkasse nicht bereit erklärt, ihm zu helfen

Eine feste Beziehung hat er seit dem Unfall nicht gehabt. Er treffe immer wieder auf diese Frauen mit Helfersyndrom. Eine Frau, die ihn bemuttern möchte, wäre für ihn aber schlimmer, als alleine zu sein. Verliebt hat er sich einmal. Sie traute sich aber nicht. Am Fenster steht der Schreibtisch, von dem aus er seine Crowdfunding-Aktion geplant hatte. Er öffnet seine „Sick of Wheels“-Facebook-Seite.

Für heute hat er sich vorgenommen, ein paar der Mails zu beantworten, die ihn in den vergangenen Tagen erreicht haben. Häufig sind es Grüße von Unbekannten: „Du bist wirklich sehr inspirierend!“ heißt es, oder „Never give up!“ Aufgegeben hat er noch nie. Aber nach fast viermonatiger Reha ist sein Geld alle. Ende August: Baltruschat ist wieder in Berlin. Seinen Rollstuhl braucht er noch, aber er glaubt, nicht mehr lange. „Meine Beine leben wieder“, sagt er. Sie hängen nicht mehr schlaff runter. Er kann sie ausstrecken, spürt die Muskelkraft. Und ja, er weiß, dass er noch Monate, vielleicht ein Jahr, trainieren muss, bis er wieder normal gehen kann. Deswegen möchte er zurück nach Pforzheim. Sein Vorbild ist eine junge Russin, die er in der Klinik kennengelernt hat. Ein Jahr hat sie trainiert. Zum Gehen braucht sie heute nur noch einen Stock.

Weil er arbeitslos ist, müsste die Krankenkasse statt der Rentenkasse die Therapie finanzieren. Bisher hat sie sich nicht dazu bereit erklärt. Manchmal träumt Baltruschat davon, wieder Football zu spielen. Er mag den Sport. Für den German Bowl, bei dem am 10. Oktober in Berlin der Deutsche Meister beim American Football entschieden wird, hat er sich ein Ticket gekauft. Es wird sein erstes Football-Match sein, seit seinem Unfall.

INFOS IM INTERNET
www.indiegogo.com/projects/sick-of-wheels

www.Facebook.de/SickofWheels

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