zum Hauptinhalt
Ohne Maß. Berliner Demonstranten bei Protesten gegen die steigenden Mietpreise.

© Michael Kappeler/dpa

Laudatio zum Brandenburger Freiheitspreis: "Mieten entscheiden, wer wo und wie lebt"

Der Brandenburger Freiheitspreis geht an eine Genossenschaft. In seiner Laudatio betont der Autor Jakob Hein die Bedeutung der Wohnung für den Menschen.

Zum zweiten Mal wird am heutigen Donnerstag in Brandenburg/Havel im Dom St. Peter und Paul in einer feierlichen Zeremonie der Brandenburger Freiheitspreis verliehen. Nach einer Andacht des Domdechanten und früheren Bischofs Wolfgang Huber und einer Ansprache des Ministerpräsidenten Dietmar Woidke, wird der Schriftsteller Jakob Hein die Laudatio auf den Preisträger, die Wohnungsbaugenossenschaft „Bremer Höhe“ eG, halten.

Hier können Sie die Laudatio nachlesen:

"Unser Grundgesetz erfreut sich in letzter Zeit einer wachsenden Nachfrage. Im Gegensatz zu Ihnen, die Sie sicher alle mit dem Wortlaut dieses Wunderwerkes, auf das wir zu Recht stolz sein sollten, vollständig vertraut sind, war ich überrascht, darin den Artikel 14 zu lesen: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Ich hatte zuvor gedacht, dieser Satz sei bloß ein geflügeltes Wort wie das sehr verwandte „Noblesse oblige“.

Schriftsteller Jakob Hein
Schriftsteller Jakob Hein

© promo

Neu ist dieser Gedanke nicht, auch Thomas von Aquin führte aus, der Mensch solle „die äußern Dinge nicht wie ein Eigentum, sondern wie gemeinsames Gut betrachten und behandeln“. Dass aber dieser heute geradezu revolutionär scheinende Satz Bestandteil unseres Grundgesetzes ist, war mir also unbekannt. Zum Teil liegt das natürlich an dem scheltenswerten Umstand, dass ich der Lektüre des Grundgesetzes zu wenig Sorgfalt geschenkt habe, es liegt aber vielleicht auch daran, dass mir dieser Grundsatz unserer Verfassung in meiner Beobachtung der faktischen Praxis der Akteure unseres Wirtschaftslebens nicht täglich ins Auge fällt.

Als uns meine Freundin, die Verlegerin Antje Kunstmann, Ende der 1990er Jahre in unserer völlig unspektakulären Berliner Wohnung besuchte, tranken wir Kaffee und sprachen natürlich über Literatur und Kunst. Zum Abschied sagte sie etwas Ungewöhnliches: „Denkt mal immer daran: So eine Wohnung ist auch Freiheit.“ Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte, aber da ich wusste, dass Antje um vieles klüger ist als ich, prägte sich mir dieser Satz in seiner damaligen Unverständlichkeit besonders gut ein.

Berlin war damals noch die Insel der Selingen

Noch vor zehn Jahren konnte man als Berliner mit dem Zug in weit entfernte Gebiete, mit völlig anderen Bräuchen und Traditionen reisen. Zu Besuch am Main oder der Isar, wo Antje wohnt, musste man verwundert feststellen, wie sich wirklich jedes Gespräch im Lauf von maximal dreißig Minuten zum Thema Wohnen bewegte, wobei die Sprechenden selbst dabei unter einem gewissen Widerwillen zu leiden schienen. Gleich dem Sohn des Laertes, der sein Schiff auf einem möglichst weit weg von Charybdis entfernten Kurs zu halten sucht und dabei immer hofft, die menschenfressende Skylla möge nicht das tun, wofür sie bis heute bekannt ist, strudelte jedes Gespräch auf langem oder kurzem Weg zum Thema des Wohnens.

Unabhängig davon, ob man gerade über die Fußballergebnisse des Tages oder Zugangswege bei der Pankreaschirurgie plauderte, früher oder später ging es in Frankfurt oder München um Wohnungen, Häuser, Immobilien, kaufen oder mieten. Berlin war damals noch die Insel der Seligen, auf der Immobilienmakler schon mal gefragt wurden, ob und wie man von dem Beruf denn leben könne.

Unser Gefühl von Freiheit hängt mit unserer Wohnsituation zusammen

Mittlerweile konnte die Hauptstadt auch in dieser Hinsicht voll in den Rest der Republik integriert werden. Es begann damit, dass Kolleginnen und Kollegen von ihren WG-Erfahrungen zu erzählen begannen. Das kannte ich schon, allerdings aus anderen Städten oder aus dem West-Berlin der 1980er Jahre. Eine Mischung aus hoher Sozialkompetenz, begrenzter Aufenthaltsdauer und hoher Miete führte vielleicht bei den Ersten zu der Entscheidung für eine gemeinsame Wohnform. Aber mittlerweile lebt kaum noch jemand allein. Meine Kolleginnen und Kollegen – hoch qualifizierte und tarifgerecht bezahlte Frauen und Männer – können es sich eigentlich nicht mehr leisten, ihre soziale Befindlichkeit in den Vordergrund über ihre Entscheidung zum alleinigen oder gemeinsamen Wohnen zu rücken. Es sind die Mieten, die zu entscheiden beginnen, wer wo und wie in unseren Städten lebt. Paare können sich nicht räumlich trennen, sie finden keine Gemeinsamkeiten mehr als die Wohnung, die sie beide nicht verlassen können.

Jeder wird bestätigen, dass unser individuelles Gefühl von Freiheit sehr unmittelbar mit unserer Wohnsituation zusammenhängt. Was nützt mir eine gute Stelle in einem renommierten Münchner Krankenhaus, wenn ich mir keine Wohnung in der Nähe dieses Hauses leisten kann? Und Zilles Wort von der Wohnung und der Axt ist jedem im Kopf, der auf die üblen Behausungen schaut, die heute an Menschen vermietet werden.

Niemand scheint dem Immobilienmarkt entkommen zu können

In den höchstpreisigen Gebieten der Stadt stehen sogar immer mehr Wohnungen und Läden einfach leer. Teilweise liegt das daran, dass diese Immobilien nur als Wertanlage und nicht als Wohnungen im eigentlichen Sinne dienen sollen, und teilweise auch daran, dass die Wertsteigerung einer Immobilie im Leerstand über die Zeit viel größer ist, als das Mieteinnahmen in derselben Zeit kompensieren könnten. Als mir der Vermieter meiner Praxis kündigte, schien er selbst darüber fast schon mehr zerknirscht als ich, aber es handele sich bei einer Arztpraxis bedauerlicherweise meist um einen sehr beständigen Mieter und das sei in einem dynamischen Markt natürlich praktisch niemandem zumutbar.

Er sprach „beständiger Mieter“ wie ein Schimpfwort aus. Mit einer Haus-Haltung, was die wörtliche Übersetzung von „Ökonomie“ aus dem Griechischen bedeuten würde, hat diese Art von Wirtschaften nichts mehr zu tun. Der Immobilienmarkt unserer Großstädte wird heute auf eine Art betrieben, wie sie es sich die Staatsbürgerkunde-Lehrbücher der DDR nicht hätten ausdenken mögen.

Auch in Berlin und Umgebung führt mittlerweile nahezu jedes Gespräch zum Thema Wohnen. Scheinbar scheint niemand dem Immobilienmarkt entkommen zu können. Menschen, die auf der Suche nach Wohnraum jeden Preis bezahlen müssen, treiben die Preise in die Höhe. Aber auch Menschen, die in ihren Wohnungen bleiben, selbst wenn sie ihnen zu groß sind, verknappen den Wohnraum und treiben die Preise in die Höhe. Käufer teurer Immobilien drehen sowieso mit an der Preisschraube und auch diejenigen, die aufgeben, sich ein Häuschen im Grünen suchen und den Markt denen mit den volleren Taschen überlassen. In letzter Zeit ist das eine Frage, die mir häufiger gestellt wurde: Wie kann man schön und lebenswert wohnen, ohne dadurch etwas zu unterstützen, das man hässlich und ablehnenswert findet?

Ein wunderbarer Gemeinschaftsort

Eine der sinnvollen Antworten auf diese Frage sind genossenschaftlich organisierte Wohnformen. Und die „Bremer Höhe“, der heute zu lobpreisende Preisträger, hat sich hierbei in beispielgebender Form hervorgetan. Es begann damit, dass sie die namensgebende Wohnanlage in Prenzlauer Berg aus einem Dornröschenschlaf erweckte und zu einem wunderbaren Gemeinschafts- und gemeinwohlorientierten Ort machte. Dort können heute Hunderte von Menschen in Ruhe und Frieden leben, während um sie herum der Immobilienmarkt von einem fiebrigen Rekord zum nächsten jagt.

Aber so lobenswert und richtig diese Initiative auch für die Bremer Höhe selbst war, ist es nicht das, was sie zu einer hervorhebenswerten, im heutigen Sinne ausgezeichneten Genossenschaft macht. Nein, die Bremer Höhe bietet ihre genossenschaftlichen Kompetenzen wie eine offene Plattform für andere Wohnprojekte an, die sich genossenschaftlich organisieren wollen. Und dabei betreibt die Genossenschaft wahrlich keine Rosinenpickerei, sondern hat sich immer auch bereitgefunden, mit komplizierten Partnern zusammenzuarbeiten.

Ein Lebensort für alle Schichten und Generationen

Hervorzuheben ist im Sinne des Brandenburger Freiheitspreises, dass sich die Genossenschaft Bremer Höhe in letzter Zeit für ein Projekt im Brandenburger Norden Berlins einsetzt. Das Stadtgut Hobrechtsfelde, dessen Gründungsanlass mit der Außerbetriebnahme der Rieselfelder 1985 nichtig geworden war, brauchte Ideen und Kapital. So entsteht nun auch dort ein Lebensort für alle Schichten und Generationen, ohne dass die Bewohner fürchten muss, durch die Entwicklung des Marktes ihr Dach über dem Kopf zu verlieren.

Das alles geschieht mit einer für Berlin unsagbar schlanken Verwaltung. Die hauptberuflich dort Tätigen passen problemlos in einen Fahrstuhl. Aber wo die Gemeinschaft nachvollziehen kann, im eigenen Interesse zu handeln, benötigt man eben auch weniger Steuerung von außen.

Der Brandenburger Freiheitspreis 2018 wird an die Wohnungsbaugenossenschaft Bremer Höhe für ihren weitblickenden, maßstabsetzenden und tatkräftigen Umgang mit gemeinschaftlichen Wohn- und Lebensformen verliehen. Die Arbeit der Genossenschaft zeigt deutlich auf, wie Freiheit ein Gut sein kann, welches durch Teilen vermehrt wird.

Wie meine Freundin damals schon sagte: „Denkt mal immer daran: So eine Wohnung ist auch Freiheit.“"

Jakob Hein

Zur Startseite