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Berlin: Lars Trispel (Geb. 1963)

Der weiß immer, was er sagt und was er tut, den schlägt's nie um

Oliver kann sich noch genau daran erinnern, wie Lars zu ihnen in die achte Klasse kam. Groß und schlank war der Neue, ein Jahr älter, dunkles Haar. Er redete wenig, dafür aber unmissverständlich. In seiner Stimme schwang leiser Humor.

Als eine der ersten Hausaufgaben des neuen Schuljahres war ein Gedicht auswendig zu lernen. Niemand mochte die Deutschlehrerin, niemand mochte das Gedicht, aber alle lernten. Nur Lars blieb stumm, als es ans Aufsagen ging. Die Sechs nahm er achselzuckend in Kauf. Wenn er stumm bleiben wollte, blieb er stumm. Wenn er reden wollte, redete er. So einfach war das.

Oliver bewunderte ihn für diese gerade Art. Er sah ihm zu, wie er in seiner Freizeit an seinem Fahrrad schraubte oder im Fußballtor stand, wo er mit seinen großen Händen fast jeden Ball abfing. Und Lars fand Gefallen an Oliver, der so ganz anders war: blond, feingliedrig, Mitglied im Schachklub.

Sie wurden beste Freunde. Hörten Bob Dylan, trampten in den Sommerferien zu dessen Konzerten. War im anhaltenden Auto nur noch ein Platz frei, sagte Lars: „Fahr du. Ich komme schon an.“ Lars war der Häuptling, ein Fels, in dessen Schatten andere Ruhe und Schutz suchten.

Umso fassungsloser war Oliver, als Lars sagte, dass er weggehen würde. Ein Fels kann doch nicht gehen! Doch die Firma von Lars’ Vater wurde nach Celle verlegt, die Familie musste mit. „Celle?“, fragte Oliver. „Wo ist Celle?“ Der Bordstein, auf dem sie gerade standen, befand sich in West-Berlin. Drum herum war diese Mauer, dahinter ein unbekannter Ozean namens DDR, dahinter eine ferne Gegend namens Westdeutschland. Irgendwo dort lag Celle, vermutlich zwischen Hamburg und München.

Lars schaute finster. Olivers Augen begannen zu brennen. Die Jahre vergingen. Keiner wusste vom anderen.

Oliver war Mitte zwanzig, ausgebildeter Krankenpfleger und schlenderte gerade durch Schöneberg, als er einen großen, dunkelhaarigen Mann erblickte, der an einem Wohnwagen schraubte. „Ey, Lars!“ Große Freude. Lars wohnte hier und bat den Freund herein.

In der Küche stand eine Kawasaki 500. Die Schlafzimmerwand war mit Strafzetteln wegen Geschwindigkeitsüberschreitung tapeziert. Lars zündete sich eine Zigarette an und erzählte. Die Häscher der Bundeswehr hatten ihn zurück nach Berlin getrieben. Er war gelernter Krankenpfleger.

Sie hatten dieselbe Ausbildung gemacht ohne voneinander zu wissen. Oliver überlegte. Wie Lars Betten über die Flure wuchtete, Apparate zusammensetzte, Gehschwache stützte, das konnte er sich vorstellen. Aber Pillen sortieren, Tabellen führen, dem Diktat der Ärzte folgen? Lars winkte ab. Er machte längst was ganz anderes, er verdiente sein Geld mit einem Wohnwagenverleih.

Oliver gefiel die gerade Art. Er mochte den leisen Humor in Lars’ Stimme. Alles war wie früher, als sei der Fels nie fort gewesen.

Und bald fand sich im Schatten dieses Felsens eine Frau ein: Jule. Lars hatte lange darauf gewartet. Er war nicht der Mensch für leichte Tänzchen, für Flirt und Schmeichelei. Jule verstand ihn, ohne dass er viele Worte machen musste. Auf seiner Kawasaki durchpflügte er die DDR wie mit einem Schnellboot, raste ihr nach in die verschiedenen Städte, die sie als Hotelfachfrau bewohnte. Bis dem Verkehrssünder jede weitere Durchreise durch die DDR verboten wurde. Da zog Jule nach Berlin. Sie bekamen drei Söhne, deren Namen alle mit „L“ begannen. Lars, das große L vor den drei kleinen.

Er gründete eine Firma für Krankentransporte. Seine Wagen durchkreuzten das nördliche Berlin so überzeugend, dass Babelsberger Filmleute sie entdeckten. Wo immer ein Rettungswagen durchs Bild musste, rief man Lars. Hinterher stand er am Set und reichte den Stars schweigend seine große Hand.

Er zog in ein großes Haus mit Garten. Seine Kawasaki hatte er gegen drei Autos getauscht. Sein Kühlschrank und seine Vorratsräume im Keller waren gefüllt bis zur Kante, ebenso der Schuppen mit den Gartengeräten. Das Kaminholz, das er allabendlich hackte, war hochgeschichtet bis zum Giebel. Kein Mangel sollte herrschen unter seinen Flügeln.

Wenn er einlud, schmiss er riesige Stücke Fleisch auf den Grill und schmunzelte vor sich hin. Alle unter seinem schützenden Dach, so gefiel ihm das. Auch Oliver kam oft mit Frau und Kindern. Manchmal zogen die beiden Männer sich dann in Lars’ Sauna zurück und redeten.

Während Olivers Leben Schwankungen und Brüche erfuhr, war das von Lars gerade und beständig. Die Firma lief, die Ehe war harmonisch, die drei kleinen L’s bewunderten das Große. „Er ist wie aus einer anderen Zeit“, dachte Oliver manchmal. „So eine richtige Vaterfigur. Der weiß immer, was er sagt und was er tut, den schlägt’s nie um.“

Und dann, im Frühling letzten Jahres, die Diagnose Lungenkrebs. Oliver und Lars saßen auf dem Krankenbett, Rücken an Rücken gelehnt. Wieder ein Abschied, diesmal für eine noch größere Distanz als Westdeutschland.

Nun ist es Jule, die die Flügel aufspannt, über die Kinder, über die Firma, über das Haus. Es ist ja alles noch da, und in alldem ist Lars. Manchmal kommt Oliver zu Besuch. Dann spielen die Kinder, und irgendjemand wirft Fleisch auf den Grill. Anne Jelena Schulte

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