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Am Tisch der Teilung. Wo einst die Mauer am Spreeufer stand, verband nun eine Tafel die Menschen und ihre Geschichten.

© dpa

Lange Tafel an East Side Gallery: Mauergedenken mit Spaghetti

Hunderte Berliner tafeln an der East Side Gallery. Es wird gefuttert, musiziert, gelesen – und an die Teilung und Wende erinnert. Ein ungewöhnliches Mittagessen.

Die jüdische Lyrikerin Rose Ausländer brachte schon vor Jahrzehnten auf den Punkt, was viele Berliner und Touristen auch am Sonnabend beim Spaghettiessen an der East Side Gallery empfanden. „Ich bekenne mich zur Poesie, die das Märchen vom Menschen spinnt“ schrieb sie voller Zuversicht im Rückblick auf ihr Überleben in der Nazizeit. Märchen und Hoffnungen können durchaus wahr werden. Genau darum ging es auch an der „Langen Tafel“, zu der Menschen aus beiden einst geteilten Stadthälften eingeladen waren, um sich gemeinsam zu erinnern. Wie war es damals, als sich West- und Ost-Berliner vor 25 Jahren nach dem Mauerfall erstmals ungezwungen begegneten? Man kam ins Plaudern, rollte Spagetti Carbonara auf die Gabel, Saxophonspieler gingen von Tisch zu Tisch – und Schauspieler als Vorleser. Zum Beispiel Claudia Schnürer. Sie zitierte aus Rose Ausländers „Bekenntnis I“.

Seit 2006 gibt es Lange Tafeln in Berlin

Die Berliner Regisseurin Isabella Mamatis und der Arbeiter-Samariter-Bund Berlin (ASB) hatten das geschichtsträchtige große Futtern veranstaltet. Für die 59-jährige Kreuzbergerin Mamatis nichts Neues: 2006 organisierte sie eine erste Lange Tafel im Bergmannkiez. Damals unter dem Motto: „Wieviel Liebe braucht der Mensch?“ Hunderte Berliner kamen und gabelten Schulter an Schulter auf der gesperrten Fahrbahn. Weitere Lange Tafeln folgten – beispielsweise auf dem Gendarmenmarkt und dem Alexanderplatz oder im Märkischen Viertel. „Wir inszenieren Kunst- und Kommunikation als Theaterspiel im öffentlichen Raum“, sagt Isabella Mamatis. „Und jeder kann mitmachen“.

Die Gäste brachten Besteck und Teller mit

So auch am Sonnabend zwischen East Side Gallery und Spreeufer, etwa in Höhe des O2-World-Anlegers. Junge Helfer vom Arbeiter-Samariter-Bund hatten Gartenbänke und Tische mehr als zweihundert Meter lang aneinandergereiht. In ihren Suppenküchen köchelten Spagetti Carbonara. Hunderte Gratis-Portionen schöpften sie aus, die Gäste mussten nur Geschirr und Besteck selbst mitbringen. Lena, Maren und Lucie, 14-jährige Schülerinnen aus Lichterfelde, hatten das in ihren roten Rucksack gepackt. Also, einen coolen Platz mit Blick auf die Spree ergattern, Tisch decken, Teller füllen und den Schiffspassagieren zuwinken, deren Dampfer vor dem Ufer mit dem ungewöhnlichen Event einige Extraschleife drehen.

Warum unterstützt eigentlich der ASB erstmals die Lange Tafel? „Weil wir uns gerne daran erinnern, welche Herausforderung es war, nach der Wende die Wasserrettung in Ost- und West-Berlin zusammenzuführen“, sagt dessen Geschäftsführerin Jutta Anna Kleber. Sie ist eine von etlichen Zeitzeugen, die an der Tafel aus ihren Erinnerungen plaudern. So auch die Kreuzberger SPD-Bundestagsabgeordenet Cansel Kiziltepe . Sie wohnte im Wrangelkiez und war 14, als die Mauer fiel. „Es war so beklemmend, am westlichen Spreeufer zu sitzen und gegenüber den Wachturm und die Soldaten zu sehen“, erzählt sie. Am 9. November stürmte sie zuallererst über die jahrzehntelang gesperrte Oberbaumbrücke, „auf der Büsche und Birken wuchsen“.

Ein Chor sang "Wir wollen rüber - von Berlin nach Berlin"

Ein Chor singt am Sonnabend aus Burkhard Schwerbrocks Mauermusical „Zwei Mal Deutschland“ den Song „Wir wollen rüber – von Berlin nach Berlin!“. Und hinter den Sängern, an einer Wäscheleine vor der East-Side-Gallery, hängen zahlreiche DIN-A4-Seiten, auf denen Kurzinterviews zu lesen sind. Schüler der Weddinger Ernst-Schering-Schule und des Leibniz-Gymnasiums in Kreuzberg haben die Gespräche mit West- und Ostberlinern über ihre Wendeerlebnisse geführt. Viel Jubel über die Freiheit steht da. Aber es gibt auch Schattenseiten. Herr C. aus Prenzlauer Berg erinnert sich. 1990 klingelte ein Mann bei ihm. Er habe das Haus als Besitzer zurückbekommen, sagte der. Und fuhr fort: „Entweder sie erwerben mit den anderen Mietern das Gebäude, oder ich inseriere es zum Verkauf.“

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