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Kurator Dmitrij Belkin: „Ich bin Jude, um nicht verrückt zu werden“

Der Berliner Kurator Dmitrij Belkin spricht im Interview über das Jüdischsein in Berlin und über die verschiedenen Formen der Erinnerungskultur.

Herr Belkin, wie jüdisch ist Berlin?

Das kommt ganz auf die Perspektive an. Einerseits ist Berlin wieder sehr jüdisch, denken Sie etwa an unsere Hunderte ELES-Stipendiaten, die von überall in die deutsche Hauptstadt kommen – so gesehen ist Berlin gewissermaßen die jüdische Stadt des frühen 21. Jahrhunderts. An anderer Stelle wiederum ist die Stadt nicht sehr jüdisch, weil die zehntausend Gemeindemitglieder und ungefähr gleiche Zahl Juden, die nicht Mitglied der Gemeinde sind, natürlich deutlich weniger sind, als die 170 000 Juden, die einstmals, also vor Hitler und vor der Shoah, in Berlin lebten. Berlin ist schließlich überhaupt nicht jüdisch, weil auch das nichtjüdische Deutschland hier für sich selbst ausgesprochen gern Monumente und Gedenkstätten errichtet. Diese werden erstaunlicherweise mitunter auch ein Ort für Juden. Ich denke etwa an die Stolpersteine. 

In ihrem Buch „Germanija“ haben sie geschrieben, dass Sie erst in Deutschland zum Juden wurden. Gibt es die vielbeschworene jüdische Realität in Deutschland überhaupt? 

Schwer zu sagen, wenn es um menschliche Identitäten geht, verschwimmen die Grenzen ja zum Glück schnell. Meine Biografie ist dafür das beste Beispiel: Ich wurde als Sohn eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter geboren, war also nach dem jüdisch-religiösen Gesetz kein Jude. Die deutschen Gesetze sahen es hingegen anders, für sie war ich ein Jude. Diese gegensätzlichen Identitäten wären erstklassige Voraussetzungen gewesen, um verrückt zu werden. Das aber wollte ich unbedingt verhindern und entschloss mich daher, Historiker und Jude zu sein. Das Jüdischsein schien mir in einer zerfallenden Welt wie eine emotionale und zugleich rationale Konstante. Der Historiker ordnet diese verrückte Welt. Die vielfältige jüdische Realität entstand in Deutschland parallel zu meiner Suche. Deutschland und ich wurden also gleichzeitig etwas jüdischer. Zugegeben: ich wurde es etwas mehr.

Ihre jetzt eröffnete Ausstellung „Babel 21“ haben Sie der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland gewidmet, was wollten Sie dokumentieren? 

Wir sind unter Anderem der Frage nachgegangen, was die jungen „Helden“ unserer Ausstellung mit der Generation ihrer Eltern und Großeltern verbindet, die in Kiew, Petersburg, Ost-Berlin, Tel Aviv, Frankfurt oder Sao Paulo geboren oder aufgewachsen sind …

Eine Jude mit der traditionellen Kopfbedeckung Kippa.
Eine Jude mit der traditionellen Kopfbedeckung Kippa.

© IMAGO

Und wie lautet die Antwort? 

Da wären wir dann wieder bei der Frage nach den Identitäten: Es ist dieses schwer beschreibbare Gefühl, sich als Jude in der vielfältigen Welt zu definieren und sich mit dieser Welt – und mit sich selbst – auseinanderzusetzen. 

Wie hat die russische Zuwanderung die jüdische Gemeinschaft geprägt? 

Entscheidend! Die Einwanderung von einer knappen Viertelmillion zwischen 1990 und 2005 hat den im Verschwinden begriffenen Gemeinden das Überleben gesichert. Die jüdische Gemeinschaft des Landes besteht heute zu etwa 95 Prozent aus diesen Russen und ihren Nachkommen, die in der Realität Ukrainer, Russen, Moldawier, Georgier und heute Deutsche, Berliner und Europäer sind.  Doch auch diese Menschen brauchen eine innerjüdische Positionierung und vor allem brauchen sie eine politische, intellektuelle und religiöse Balance zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der nichtjüdischen Gesellschaft. Diese Balance ist auch für die Mehrheitsgesellschaft vonnöten. Wie sie bewusst gesucht wird, zeigt unsere Ausstellung, wie sie gefunden werden kann, könnte eine jüdische Denkfabrik zeigen.

Sie schreiben, dass sich vor allem die Form der Erinnerungskultur der zugewanderten Neudeutschen unterscheidet. Wie zeigt sich das? 

Ob Israeli oder Russe, ob Amerikaner oder Brasilianer: Die Protagonisten unserer Ausstellung tragen die Geschichten des 20. Jahrhunderts mit sich. Das kollidiert nicht selten mit der deutschen Erinnerungskultur. Das, was hier selbstverständlich scheint, zum Beispiel die Vorstellung von Juden als einem Opferkollektiv, wird anderswo massiv angezweifelt: Die Russen sehen sich oft als Sieger im Zweiten Weltkrieg und nicht als Opfer, die Israelis in Berlin kritisieren nicht selten, dass in ihrem Land der Slogan „Wir waren ewige Opfer der Geschichte und sollten es nie wieder werden“ zum Nationalismus führt. Diese entgegengesetzten Erinnerungsnarrative sind in unserer Ausstellung zu sehen. 

Der Migration aus den ehemaligen Sowjetstaaten wurde in der Vergangenheit nur eine sehr geringe Aufmerksamkeit zuteil – erst jetzt hat die Politik die Deutschrussen als potenzielle Wählerschaft entdeckt. Woher kommt diese Ignoranz? 

Sie ist im Wesentlichen ein Produkt des Kalten Kriegs. Damals herrschte eine völlig illusorische Vorstellung vom Land des Bösen, aus dem diese Menschen angeblich kamen. Ihnen wurde, wie den Bürgern der ehemaligen DDR, ihre Geschichte nicht zugestanden – stattdessen drängten man sie dazu, sie „aufzuarbeiten“. Politisch hatten die Russlanddeutschen und auch die postsowjetischen Juden still zu halten und wurden oft zu bloßen Stimmenbeschaffern degradiert. Diese Zeiten gehen aber nun zu Ende: Die einstmals apolitischen Russen politisieren sich rasant – und das ist gut so. Das russischsprachige Milieu in Deutschland trifft allerdings auch eine Mitschuld, lieber zu schweigen und die Angst davor etwas Falsches zu sagen, sind auch die Folgeerscheinungen einer Generation, die im Totalitarismus sozialisiert wurde.

Die Ausstellung „#Babel 21. Migration und jüdische Gemeinschaft“ wird ab dem 13.09. in der Stiftung Neue Synagoge Berlin in Mitte – Centrum Judaicum gezeigt.

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