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Die alten Griechen im Original lesen - auch das wird an grundständigen Gymnasien geboten.

© iStock/PanosKarapanagiotis

Update

Kritik am rot-grünen Wahlprogramm in Berlin: „Ein Giftcocktail für die Gymnasien“

Hochbegabtenförderung, besondere Sprachen und mathematische Profile bieten die Gymnasien ab Klasse 5. Grüne und Linke wollen das ändern.

Die im Wahlprogramm von Grünen und Linken enthaltene Abschaffung der fünften und sechsten Gymnasialklassen und des gymnasialen Probejahrs hat zu scharfen Abwehrreaktionen geführt. „Der Giftcocktail für das Gymnasium, den die Grünen und die Linken seit Jahren anrühren, wird nun durch zwei weitere Spritzer ergänzt“, empört sich der Vorsitzende des Verbands der Oberstudiendirektoren (VOB), Arnd Niedermöller.

Zuvor hatte der Tagesspiegel über das Vorhaben der beiden Parteien berichtet, nur noch Gymnasien ab Klasse 7 zuzulassen. Die so genannten grundständigen Klassen, also Klasse 5 und 6, fielen dann weg.

Auch Robert Rauh, der Träger des Deutschen Lehrerpreises, Buchautor, Referendarausbilder und Lichtenberger Gymnasiallehrer, meldete sich am Wochenende zu Wort. Unter dem Motto: Pragmatismus statt Ideologie“ veröffentlichte er einen „7-Punkte-Plan“ zur Abgeordnetenhauswahl, darin enthalten die Forderung nach der Abschaffung der sechsjährigen Grundschule.

Rauh argumentiert darin, dass die Gymnasien im frühen Wechsel eine „perfekte Frühförderung“ sähen, weil sie der Auffassung seien, dass die Schüler:innen mit Gleichinteressierten ab Klasse 5 „auf deutlich höherem Niveau arbeiten würden als das an den Grundschulen möglich ist“.

Linke und Grüne begründen den Wegfall des frühen Wechsels zum Gymnasium damit, dass er die Segregation fördere. Das Probejahr wollen sie zudem durch ein Aufnahmeverfahren ersetzen. Das sei für die Schülerinnen und Schüler besser als der Schulwechsel nach einem ganzen Schuljahr.

Bisher gibt es die so genannten grundständigen Klassen an 35 der rund 90 Gymnasien sowie an einer einzigen Sekundarschule: Die Gustav-Heinemann-Schule hatte vor über 15 Jahren die Sondererlaubnis bekommen, um frühzeitig mit Japanisch als erster Fremdsprache beginnen zu können. Erst 2020 erhielt überraschend das Diesterweg-Gymnasium in Mitte die Erlaubnis, fünfte Klassen zu eröffnen.

Was die Parteien planen

  • In ihrem Wahlprogramm schreiben die Grünen, dass sie die frei werden räumlichen Kapazitäten der bisher rund 2000 Schulplätze in grundständigen Klassen mit zusätzlichen siebten Gymnasialklassen auffüllen würden. Zum Probejahr heißt es: "Wir wissen um die Belastung für Kinder durch das Probejahr und das Abschulen. Deshalb werden wir beides durch andere Maßnahmen ersetzen".
  • Im Wahlprogramm der Linken findet sich dieser Zusatz nicht, sondern nur allgemein der Hinweis, man wolle "die gemeinsame sechsjährige Grundschulzeit verbindlich für alle verankern". Zudem heißt es: "Das Probejahr an Gymnasien wollen wir abschaffen und die gemeinsame sechsjährige Grundschulzeit verbindlich für alle verankern".
  • Im SPD-Wahlprogramm steht ebenfalls das Bekenntnis zur „verpflichtenden sechsjährigen Grundschule“. Allerdings teilte SPD-Bildungsexpertin Maja Lasic auf Anfrage mit, die SPD habe nicht vor, „an der Grundständigkeit zu rütteln“. Somit schreiben SPD und Linke fast das Gleiche, wollen aber offenbar Verschiedenes. Im Übrigen vermeidet das SPD-Wahlprogramm ein Reizwort, das im Wahlkampf schaden könnte. So hat Lasic zwar nie einen Hehl daraus gemacht, dass die SPD das Probejahr gern abschaffen möchte. Im Wahlprogramm liest sich das aber so: "Unsere Reform beim Übergang auf das Gymnasium nimmt die individuellen Leistungsstärken und Potentiale der Kinder in den Blick und richtet das Verfahren dahingehend aus":
  • CDU, FDP und AfD planen Derartiges nicht, sondern betonen die Bedeutung eines vielgliedrigen Schulsystems mit grundständigen Klassen und Probejahr am Gymnasium.

Schon jetzt reichen die Lehrkräfte für die Grundschulen nicht

Niedermöller, der VOB-Vorsitzende. hält das Probejahr für wichtig. Im Übrigen erinnert er daran, dass die vierjährige Grundschule außer in Berlin und Brandenburg im gesamten Bundesgebiet die Regel sei. Der Beginn ab Klasse 5 am Gymnasium werde auch in Berlin stark von Eltern nachgefragt und übersteige jedes Jahr das Angebot.

„Warum der Elternwille an dieser Stelle nicht unterstützt wird, erschließt sich mir nicht“, schreibt Niedermöller in seiner Stellungnahme für den Tagesspiegel. Ebenso sei ihm „ein Rätsel“, warum man bei fehlenden Grundschullehrkräften und fehlenden Grundschulplätzen noch mehr Kinder an die Grundschule holen wolle.

Der frühe Wechsel habe den Vorteil, dass den Gymnasien mehr Zeit bleibe, die Kinder in der verkürzten Lernzeit von zwölf Jahren zum Abitur zu bringen. In Berlin sei das Gymnasium ein hocheffizientes System, das aber nicht für jedes Kind geeignet sei.

Da die Gymnasialklassen größer seien als die Sekundarschulklassen, und da die Jugendlichen zudem in nur zwölf statt 13 Jahren zum Abitur kämen, spare das Land Geld, das an anderer Stelle für die Förderung zur Verfügung stehe. Insofern leiste das Gymnasium "einen Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit".

Auch im Zehlendorfer Schadow-Gymnasium beginnt man in Klasse 5 mit Latein.
Auch im Zehlendorfer Schadow-Gymnasium beginnt man in Klasse 5 mit Latein.

© Thilo Rückeis

Niedermöller empfindet den erneuten Vorstoß zur Abschaffung der grundständigen Klassen als „tragisch“, weil dadurch letztlich die soziale Spaltung zunehme: „Werden die Gymnasien gestutzt, ist dies ein Förderprogramm für Privatschulen bei denen der Geldbeutel der Eltern über den Zugang entscheidet“, befürchtet Niedermöller, der das Immanuel-Kant-Gymnasium in Rummelsburg leitet. Die Vorstellung, „dass alle Elternhäuser ihre Kinder auf eine staatliche Einheitsschule schicken, ist völlig unrealistisch“: Gerade bildungsaffine Elternhäuser würden auch andere Angebote prüfen.. Niedermöller lobte die „hohe soziale Integrationskraft“ der Gymnasien: In wenigen anderen Ländern dieser Erde säßen „die Kinder von Vorstandvorsitzenden in einer staatlichen Schule, dem Gymnasium, neben den Kindern von Arbeitern und Hartz-VI-Empfängern und erhalten gemeinsam das Abitur“. Berlin brauche „ein breites Bildungsangebot, das differenziert ist und für jeden etwas bietet“.

CDU-Spitzenkandidat Kai Wegener nannte es am Sonntag "ein Stück aus dem Tollhaus, dass Grüne und Linke wie die Kurpfuscher den Berliner Schulen noch mehr von der faulen Medizin verordnen wollen, die die Bildung erst krank gemacht hat".

Die CDU plädiert dafür, es den den allgemeinbildenden Gymnasien bei entsprechender Nachfrage freizustellen, schon ab Klassenstufe 5 ein Angebot für die Schülerinnen und Schüler zu machen, anstatt den frühen Übergang abzuschaffen.

Mehr Personal - wegen der Lernrückstände

Neben der Forderung nach der vierjährigen Grundschule enthalten Rauhs Thesen noch Appelle zur Personalausstattung. Damit „der Unterricht nicht zur Nebensache wird“ angesichts des Lehrermangels spricht er sich dafür aus, die Attraktivität des Lehrerberufs durch finanzielle Anreize zu erhöhen. Dazu gehört für ihn die Verbeamtung sowie auch die Verpflichtung aller Bundesländer, ausreichend Lehrkräfte für den eigenen Bedarf auszubilden.

Es gehe nicht an, dass die Anzahl der Plätze im Grundschulbereich sogar gedeckelt sei, obwohl der Bedarf in der Grundschulpädagogik infolge der Pensionierungswelle ständig wachse: Berlin solle eine Bundesratsinitiative einbringen, findet Rauh: Jedes Land solle sich verpflichten, ausreichend Lehrkräfte für den eigenen Bedarf auszubilden. Zudem plädiert der Deutsch-, Geschichts- und Politiklehrer dafür, mehr Personal zur Beseitigung der Lernrückstände einzustellen – darunter auch Studierende und Pensionäre, Sozialpädagogen:innen, Erzieher:innen, Medientechniker:innen und Werkstattleiter:inne: Sie sollen die Lehrkräfte im Unterricht unterstützen:

Forderung: Keine Pausenaufsichten mehr

„Ziel sollte eine Doppelsteckung von Lehrkräften und nicht-lehrendem Fachpersonal in besonders heterogenen Lerngruppen sein“, erläutert Rauh. Zudem müssten Lehrkräfte von unnötiger Bürokratie befreit werden sowie von Pausenaufsichten. Der Lehrer und Referendarausbilder erinnerte daran, dass die Koalition bei der letzten Wahl 2016 eine Entlastung der Lehrkräfte in Aussicht gestellt habe. Dem müssten jetzt Taten folge, indem zwei Unterrichtsstunden pro Woche erlassen würden. Die reduzierten Stunden könnten dann für eine Vertretungsreserve verwendet werden, um den Unterrichtsausfall zu minimieren. Auch andere Modelle seien denkbar – etwa Ermäßigungsstunden für Lehrer:innen mit korrekturstarken Fächern.

Rauhs Überlegung: Wenn man Lehrkräfte entlaste, wären sie vielleicht bereit, im Gegenzug Vollzeit zu arbeiten, sodass sie untern Strich mehr Unterricht übernähmen. Zurzeit sind von den knapp 31.000 Lehrer:innen rund 8000 in Teilzeit.

Rauhs Thesen gibt es vollständig auf seiner Seite schul-gerecht.de

Das sind die Angebote ab Klasse 5

Was eine Abschaffung für die grundständigen Klassen der freien Schulen bedeuten würde, ist bisher unklar.

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