zum Hauptinhalt
In Göttingen gibt es schon einen Radschnellweg - der gut angenommen wird. Berlin soll auch welche bekommen, wenn der Volksentscheid Erfolg hat.

© picture alliance / dpa

Kostenschätzung für Berliner Fahrrad-Volksentscheid: Warum liegen die Zahlen so weit auseinander?

2,1 Milliarden Euro kostet der Fahrrad-Volksentscheid, sagt der Berliner Senat. 320 Millionen Euro, sagen Aktivisten. Wie kommen beide Seiten auf ihre Zahlen?

Senat: 2,1 Milliarden Grüne: 1 Milliarde Aktivisten: 320 Millionen

Jeder rechnet sich die Welt, wie sie ihm gefällt. 320 Millionen Euro kostet der Fahrrad-Volksentscheid nach der Kalkulation der Initiatoren, 2,1 Milliarden Euro nach Berechnungen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Beide Zahlen stehen auf den Unterschriftenlisten, die derzeit in der Stadt verteilt werden. Da kann sich der Bürger dann seinen Reim drauf machen.

Warum liegen die Zahlen so weit auseinander? Und wer hat Recht? Helfen könnte vielleicht ein unabhängiger Gutachter, aber der kostet Geld und ist im Verfahren nicht vorgesehen. Die Grünen kritisieren die amtliche Kostenschätzung scharf: „Der Senat betreibt Desinformation.“ Tatsächlich ergeben sich bei näherem Hinsehen einige überraschende Widersprüche.

RADSCHNELLWEGE

Der erste deutsche Radschnellweg wird zurzeit in Nordrhein-Westfalen gebaut, der RS1, eine kreuzungsfreie Radverbindung zwischen den Städten des Ruhrgebiets. Die Kostenschätzung für 100 Kilometer liegt dort bei 187 Millionen Euro, also 1,87 Millionen Euro pro Kilometer. Der Senat rechnet fast das Doppelte: 3,25 Millionen Euro pro Kilometer.

Die Grünen halten eine Million für realistisch, mit Verweis auf Beispiele in den Niederlanden und Dänemark. Interessanterweise verweist auch der Senat bei der Kostenermittlung auf das Beispiel RS1. „In den dem Berliner Stadtgebiet vergleichbaren Abschnitten wurden Durchschnittskosten von rund 3,25 Millionen Euro/km geschätzt.“ Die Planer des RS1 sind ratlos: „Diese Zahl höre ich zum ersten Mal“, sagt Martin Tönnes, Bereichsleiter Planung im Regionalverband Ruhr. Die Kosten von 1,87 Millionen Euro bezögen sich schon auf den städtischen Raum und seien vergleichsweise hoch, vor allem, weil für den RS1 viele alte Bahnbrücken saniert werden müssen. „Realistisch sind 1,5 Millionen Euro pro Kilometer. Das sagen die Kollegen aus den Niederlanden.“

RADWEGENEUBAU

Dieser größte Posten der amtlichen Kostenschätzung ist am schwersten einzuschätzen, vor allem, weil im Gesetzentwurf der Initiative keine genauen Anforderungen definiert sind. Die Grünen würden sich auf den meisten Straßen mit Radstreifen begnügen, also im Wesentlichen Markierungsarbeiten und Radampeln finanzieren.

Sie kommen dabei auf 330 Millionen Euro. Die Initiative beziffert die Kosten pauschal auf 226 Millionen Euro für das „Radverkehrsnetz“. Der Senat schätzt die Kosten für einen einfachen Ausbau des 1600 Kilometer langen Hauptstraßennetzes mit Markierungen und „punktuellen Sanierungen“ auf 400 Millionen Euro, rechnet aber offiziell mit einem „oberen Schätzwert“ von 1,4 Milliarden Euro.

Darin sind vor allem Baukosten für neue beziehungsweise neu sanierte, zwei Meter breite Radwege neben der Fahrbahn enthalten. Die Begründung: Vielerorts lasse der „Straßenzustand“ ein „einfaches Markieren“ gar nicht zu. Und weil der Volksentscheid nur eine Frist von acht Jahren setze, könne mit dem Ausbau der Radwege nicht bis zur nächsten regulären Komplettstraßensanierung gewartet werden. Es würden also relativ ineffizient Steuergelder verbaut, so der Senat.

FAHRRADSTELLPLÄTZE

„Planung, Beschaffung und Einbau“ eines „Kreuzberger Bügels“ kostet laut Senatsverwaltung für Stadtentwicklung 250 Euro. Ein Bügel reicht für zwei Räder. 100 000 zusätzliche Abstellplätze, wie vom Volksentscheid gefordert, kämen also auf 12,5 Millionen Euro. Das steht in der Antwort des Senats auf eine Anfrage des Grünen-Abgeordneten Stefan Gelbhaar.

In der amtlichen Kostenschätzung wird die doppelte Summe genannt: 24 Millionen Euro, davon fünf Millionen Euro für eine „Überdachung“ von 5000 Stellplätzen und vier Millionen Euro „Baunebenkosten“, darin verbergen sich „Planungs- und Projektsteuerkosten“. Der Senat rechnet also mal so, mal so.

NEUE FAHRRADSTAFFELN

Im Volksentscheid-Gesetz werden Fahrradstaffeln in allen Ordnungsämtern und Polizeidirektionen gefordert, nach dem Vorbild des laufenden Modellversuchs. Obwohl für den Modellversuch – 20 radelnde Polizisten – kein zusätzliches Personal eingestellt wurde, rechnet der Senat bei der Polizei mit 100 neuen Stellen.

Kosten: 110 Millionen Euro. Für die geforderte „Ermittlungsgruppe Fahrraddiebstahl“ geht die Verwaltung von „voraussichtlich 45 Personen“ aus, das würde Kosten von 13,6 Millionen Euro in acht Jahren verursachen. Die Grünen kritisieren, dass der Senat nicht aus dem vorhandenen Personal schöpfen will.

GRÜNE WELLE

Grüne Wellen für den Radverkehr auf 50 Hauptstraßen innerhalb von drei Jahren fordert der Volksentscheid. Der Senat berechnet dafür zehn Millionen Euro, die Grünen sechs Millionen. Die Verwaltung legt einen Mittelwert zur Umrüstung einer einzigen Ampel von 40 000 Euro zugrunde. In der Antwort auf eine Anfrage von Stefan Gelbhaar wird dagegen auf Durchschnittskosten von 51 000 Euro für drei Ampeln und auf das Beispiel Belziger Straße in Schöneberg verwiesen: Dort kostete das Anpassen der vier Ampeln „nur“ 12 500 Euro.

Will man einen Hauptstadtflughafen oder einen unterirdischen Bahnhof, werden die Kosten gern mal unterschätzt. [...] Will man keinen Ausbau des Fahrradverkehrs (Stichwort: Automobilnation), werden die Kosten hemmungslos überschätzt.

schreibt NutzerIn bescheidwisser

KOSTEN-NUTZEN-ANALYSE

Der Senat hat das Geld, das er laut Verkehrsstaatssekretär Christian Gaebler (SPD) schon jetzt jährlich für den Radverkehr ausgibt, 35 Millionen Euro, nicht von seiner Kosten-Nutzen-Analyse abgezogen. Macht auf acht Jahre gerechnet immerhin 280 Millionen Euro weniger. Die Volksentscheid-Macher rechnen zusätzlich mit Spareffekten von 135 Millionen Euro, weil Diensträder statt -autos genutzt würden, mehr Bußgelder gegen Falschparker eingingen und die Krankheitsquote im öffentlichen Dienst drastisch sinken würde.

Für die Ruhr-Region wurde ein Kosten-Nutzen-Vorteil des Radschnellwegs mit dem Faktor 4,8 errechnet – jeder investierte Euro erzeugt also einen „gesamtwirtschaftlichen Gewinn“ von knapp fünf Euro. Das geschieht vor allem durch weniger Staus, Abgase, Lärm, Stress und mehr Tourismus. So rechnen übrigens auch die Kopenhagener. Die 26 geplanten Radschnellwege in die dänische Hauptstadt sollen die jährlichen Aufwendungen für das öffentliche Gesundheitswesen um 40 Millionen Euro senken. So etwas steht allerdings in keiner amtlichen Kostenschätzung.

Zur Startseite