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Punkrocker Chris lauscht Sängerin und Bassistin Natalie Greffel.

© Thomas Wochnik

Konzerte auf Fahrradrikschas: So bringt die Jazzwoche Livemusik in die Berliner Kieze

Musikmachen auf dem Fahrrad? Geht, wenn man gefahren wird. Unterwegs mit der Rikscha, die noch bis 13. Juni den Jazz zu den Menschen bringt.

Ben Barritt hat Lampenfieber – seit dem Teenager-Alter hatte er das nicht mehr, sagt der bühnenerfahrene Musiker mit britischem Akzent. „Ich bin super froh, wieder ein Konzert zu spielen. Und ich bin super beeindruckt, wie Leute in Berlin während der Pandemie immer wieder neue Wege finden, trotz allem Konzerte zu geben.“

An diesem sonnigen Montagnachmittag spielt er auf einer Fahrradrikscha. Während der Fahrt, wohlgemerkt. Lampenfieber hat er aber nicht nur wegen des ungewöhnlichen Settings, sondern vor allem, weil es das erste Konzert im Jahr 2021 für ihn ist.

Nach anfänglichen Hürden, wie dem umständlichen Betreten der „Bühne“ und dem Soundcheck auf engstem Raum, tritt Rikschafahrer Chris vor dem Kreuzberger Luxushotel Orania gemütlich in die Pedale. Eile ist nicht geboten, schließlich sollen Passanten etwas von dem mitbekommen, was auf der Rikscha geschieht. Musik braucht als Zeitkunst schließlich Zeit, um zu wirken.

Dagegen denkt man unwillkürlich an Bilder von Radrennen, wie der Tour de France, bei denen Scharen von Fans stundenlang am Streckenrand ausharren, um ihre Sportidole nur wenige Sekunden lang vorüberdonnern zu sehen – so soll das hier nicht sein.

Scharen von Fans am Streckenrand gibt es außerdem auch nicht, die Fußwege sind ausgesprochen leer. Ab und an bleibt jemand kurz stehen, zückt vielleicht ein Handy um schnell ein Video zu machen und es mit der Verwandtschaft zu teilen. 

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Ein Mann traut sich bei einem kurzen Zwischenstopp ganz nah an die Rikscha, um ein Selfie mit dem Künstler zu machen, eine an der roten Ampel stehende Passantin beginnt spontan in Barrits Groove mitzuwippen, in den meisten Fällen aber bleibt es beim neugierigen Blick.

Selbst am Checkpoint Charlie, wo früher um diese Uhrzeit dichtes Gedränge herrschte, wie Fahrer Chris aus Erfahrung weiß, sind kaum Menschen. Aber Fanscharen zu versammeln war auch nicht die Idee hinter der Aktion. Wenn Barritt die Saiten seiner Klassikgitarre zupft und sich die manchmal nur dahingehauchte Stimme ihren Weg durch die komplexen Harmonien bahnt, ergibt das ein durchaus romantisches Gesamtbild.

Chris kutschiert Ben Barritt in seiner Fahrradrikscha an Resten der Berliner Mauer entlang.
Chris kutschiert Ben Barritt in seiner Fahrradrikscha an Resten der Berliner Mauer entlang.

© Thomas Wochnik

„Ich empfand eine ganz eigene Freude dabei, einfach Musik in die Welt hinaus zu spielen, nach allen Richtungen, für wen auch immer“, sagt er nach der Tour. Und dass er normalerweise reisekrank würde, aber das Musikmachen dagegen gut helfe, „ich kann es nur empfehlen. Einzig das Spielen beim Überrollen von Löchern in den Berliner Radwegen müsste ich nochmal besser üben“.

„Geiler Raum, geiles Essen und geiles Musik“

Philipp Vogel, Sternekoch und Betreiber des Luxushotels Orania am Oranienplatz, freut sich darüber, wieder Musik mitveranstalten zu können. „Wir sind, seit Jahren Austragungsort der Jazzwoche und haben stets auch Live-Musik im Haus. Dieses Jahr haben wir aber, abgesehen von einigen Streaming-Konzerten aus unserem Salon, noch gar nichts veranstalten können.“ Er habe festgestellt, dass klassische Musik, die ursprünglich auch im Konzept stand, hier in Berlin, zumindest außerhalb der klassischen Konzertsäle, nicht so gut ankomme, wie Jazz.

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„Unsere Idee war schon immer, hier eine hochqualitative Wohnzimmeratmosphäre einzurichten, mit geilem Raum, geilem Essen und geiler Musik. Ein bisschen so, wie wenn man Freunde zu sich nach Hause einlädt, die guten Platten auflegt, sie schön bekocht und den guten Wein aufmacht.“ 

Für die Musikauswahl im Orania wie bei der Rikschafahrt ist Jazzpianist Matti Klein zuständig, der, wie Philipp Vogel erzählt, sicherstellt, dass die Qualität stimmt, aber auch versteht, was zum Orania passt. „Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass es für unsere Klientel schwierig wird, wenn die Bands zu experimentell werden.“

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Eine Dreiviertelstunde nach Abfahrt kommt die Jazzrikscha am Club Gretchen an, wo Barritt aus- und die singende Bassistin Natalie Greffel einsteigt. „Ich wurde angefragt und hatte Zeit und Lust", erzählt sie. Eigentlich spiele sie in einer vier- bis fünfköpfigen Band, seit Corona aber nur noch alleine. 

„Das heißt, ich musste meine ganze Platte allein spielen lernen. Jetzt kann ich die Stücke auch endlich mal aufführen.“ Lampenfieber hat sie dem Anschein nach kaum, obwohl es mit dem großen E-Bass noch enger in der Rikscha wird, als mit Barritts Gitarre.

„Musikalisch gesehen ist Jazz für mich der neue Punk“

Es sei in Berlin ganz einfach, draußen zu spielen, erklärt sie. „Ich habe früher viele Straßengigs gespielt, auf der Oberbaumbrücke und der Warschauer Brücke.“ Damals sei es zwar mehr darum gegangen, einfach Party zu machen, aber so anders sei das heute nicht, von der Fortbewegung abgesehen. Zu normalen Konzerten kommt das Publikum wegen der Künstlerin und ist schon da, bevor sie die Bühne betritt.

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Auf Oberbaumbrücke wie Rikscha ist das anders. „Musikalisch gesehen ist Jazz für mich der neue Punk", sagt Lars Döring, Co-Betreiber des Gretchen-Clubs. „In meiner Wahrnehmung haben junge Menschen in Berlin und international vor vielleicht sieben Jahren angefangen, Jazz ganz neu zu gestalten, eine dynamische Szene zu bilden und eine kleine Jazzrevolution zu starten, die mit dem Aufbrechen von Genre- und Communitygrenzen einhergeht.“

Man sehe das auch am Wandel des Publikums, erzählt er. „Als der israelische Trompeter und Bandleader Avishai Cohen hier auftrat, sind 400 Leute beim Konzert völlig ausgeflippt, haben dabei aber nicht gesessen und Wein getrunken, sondern standen und tanzten.“ Es habe eine Atmosphäre gegeben, die man sich zuvor im Jazz kaum habe vorstellen können – Jazz als Teil der Clubkultur, nicht exklusiv sondern verschiedenste Menschen verbindend.

Noch bis 13. Juni geht's täglich durch die Kieze

Die heutige Tour und die Jazzwoche unterstütze er auch, weil damit eine Brücke geschlagen würde zwischen dem traditionellen Jazz und dieser jungen Subkultur. „Beides hat seinen Platz. Es scheint uns wichtig, dass sich die Generationen gegenseitig kennenlernen und anerkennen.“

Apropos Punk: Auch Rikschafahrer und Punkrocker Chris findet die Aktion richtig gut. „Mein Ding ist ja eigentlich Punkrock. Und wie man weiß, würde es den historisch gesehen ohne Jazz gar nicht geben. Aus dem Jazz ging ja der Ska hervor, der dann zum Punk führte. Außerdem ist Punk, wie Jazz, multikulturell. Zum Beispiel bei Schlager würde ich das hier nicht mitmachen, davon krieg ich Pickel. Aber Jazz: immer gerne.“

Unter dem Motto „Jazz goes Kiez“ fährt die Rikscha mit wechselnden Künstler:innen weiter durch Berliner Kieze, und das bis noch bis zum 13. Juni täglich von 16 bis 20 Uhr. Die Jazzwoche bietet an mehr als 30 Berliner Spielstätten ein Digital- und ein Liveprogramm. Einzelheiten zum Streaming sowie den Künstler:innen finden Sie unter: field-notes.berlin.

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