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Bei einigen Menschen kann diese Kreuzung im Nebel Angstgefühle auslösen.

© imago/Photocase

Kommentar zur Integrationspolitik: Die Dinge beim Namen nennen

Sich in Deutschland unsicher fühlen, das ist ein subjektives Gefühl. Trotzdem sollte man sagen, was ist - daran hat es vielleicht viel zu lange gefehlt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Am vergangenen Sonntag erschien im Tagesspiegel ein Text mit der Überschrift „Wird Berlin zum Angstraum?“. Kollege Frank Bachner hatte sich in der Stadt umgehört und ein wachsendes Unsicherheitsgefühl vieler Menschen wegen des aggressiven Verhaltens mancher Flüchtlinge diagnostiziert. Er zitierte auch die Zahlen der jüngsten Kriminalstatistik, die eine andere, positivere Tendenz aufweisen. Ganz auflösen ließ sich der Widerspruch nicht. Auf der Internetseite des Tagesspiegels wurde der Essay hunderttausendfach gelesen. Offenbar war ein Nerv getroffen worden.

Sich unsicher fühlen – das ist subjektiv. Die Diskrepanz zwischen Gefühl und Statistik bleibt. Das ist oft so. Menschen haben vorm Fliegen Angst, obwohl Flugzeuge das sicherste Verkehrsmittel sind. Menschen haben vor Terroranschlägen Angst, obwohl sie statistisch eher an einer Pilzvergiftung sterben. Juden, die sich in Europa vor dem Antisemitismus fürchten, wandern nach Israel aus, obwohl dort die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Attentats zu werden, ungleich höher ist. Menschen spielen Lotto, obwohl ihre Gewinnchancen minimal sind.

Angela Merkel beklagte unlängst, dass es in Deutschland No-go-Areas gäbe, also rechtsfreie Räume, gegen die man etwas tun müsse. Was genau, ließ sie im Vagen. Aber sie warb dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. Vielleicht hat es genau daran viel zu lange gefehlt. Als 2015 die Flüchtlinge kamen, träumten einige Deutsche von einer großen Versöhnung von Abendland und Morgenland. Auf der anderen Seite sahen Rechtspopulisten das Ende Deutschlands nahen. Schönfärber und Schlechtredner gönnten sich nichts. Jeder blendete aus, was dem Gegner nützen könnte. Die Angst vor dem Beifall von der falschen Seite führte zu einer verzerrten Darstellung der Wirklichkeit.

Spätestens seit der Kölner Silvesternacht werden die Probleme thematisiert

Nun wird diese Realität ausgeleuchtet, manchmal grell. Spätestens seit der Kölner Silvesternacht werden etwa die Probleme thematisiert, die mit der Ballung von vielen jungen, arbeitslosen Männern zu tun haben. Hart stoßen die Kulturen aufeinander, Stadtbilder verändern sich, die abendliche Fahrt mit der U-Bahn, umringt von Migranten, lässt das Kopfkino anspringen. Ob real bedrohlich oder phantasiert bedrohlich, spielt in dem Moment keine Rolle. Das lehrt auch der Streit um die Essener Tafel.

Zur neuen Ehrlichkeit gehört aber auch, dass allein im vergangenen Jahr 2219 Angriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte verübt wurden. Moscheen werden geschändet, Sprengsätze geschmissen. Deutsche registrieren an sich selbst ein zunehmendes Unsicherheitsgefühl. Wie müssen sich Migranten fühlen, wenn sie nachts von einem beißenden Rauchgeruch geweckt werden?

Leicht aus dem Blick geraten ebenfalls die vielen Integrationserfolge. Der Alltag eines Fliesenlegers, der den Fleiß seiner afghanischen Arbeiter lobt. Die junge Iranerin, die in einer IT-Firma aufsteigt. Berichte darüber werden oft als nicht repräsentative Einzelfälle diffamiert. Aber Integration besteht nun mal aus vielen Einzelfällen. Ob sie insgesamt gelingt, werden wir in zehn oder zwanzig Jahren wissen.

Bis dahin muss das Sicherheitsgefühl im öffentlichen Raum gestärkt, die Polizeipräsenz an prekären Orten erhöht, Staatsanwaltschaften personell besser ausgestattet, jedes Verbrechen geahndet, Ausreisepflichtige konsequenter abgeschoben werden. Das klingt selbstverständlich, ist es aber leider nicht.

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