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 Mauersegler sind Akrobaten der Lüfte, segeln gerne knapp an Gebäudewänden entlang und schnappen dabei Insekten auf. Durch Haussanierungen verlieren sie aber zunehmend Brutplätze.

© Imago

Kleine Tiere, große Lobby: Berliner Bauvorhaben: Wie viel Naturschutz muss sein?

Seltene Käfer, Echsen, Fledermäuse und andere Lebewesen behindern immer öfter Bauprojekte in der Stadt und kommen den Stadtplanern in die Quere. Und womit? Mit Recht.

Der Winter spielt Frühling; die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Noch? Könnte so sein. Denn es sind zwar viele, aber sie sind weniger geworden. Soll mir recht sein, mag sich mancher denken, der vor Sonnenaufgang vom Geschwätz aus der Hecke im Hof geweckt wird. Dann fährt dieser Stadtmensch zur Arbeit – und wundert sich beim Blick aus dem S-Bahn-Fenster über aufwendige Folienzäune in Schöneweide, die Eidechsen dort schützen sollen, wo im vergangenen Jahr alte Gleise herausgerissen wurden. In der Zeitung steht, dass das Einheitsdenkmal am Schloßplatz wegen geschützter Fledermäuse auf sich warten lässt. Auch das im Müggelwald verbuddelte Lenin-Denkmal für die neue Dauerausstellung in der Spandauer Zitadelle kann womöglich erst später geborgen werden, weil in dem Sandhaufen geschützte Zauneidechsen überwintern.

Beim Spaziergang im Schlosspark Schönhausen muss der Stadtmensch morschen Eichen weichen, die nicht gefällt werden: In ihnen leben seltene Käfer. Und die Fahrt mit dem ICE nach Hannover ginge noch einen Tick schneller, wenn der Zug nicht im Havelland sein Tempo reduzieren müsste: Dort leben einige der letzten Großtrappen Deutschlands. Beim Ausbau der Strecke in den 1990ern wurden für rund zwölf Millionen Euro Wälle aufgeschüttet, die Oberleitung abgesenkt und das Tempo von 250 auf 200 reduziert, damit die flach startenden Vögel nicht gestört und gefährdet werden.

Der Spruch, dass in Asien ein Neubau schon steht, während bei uns kaum die Frösche umgesiedelt sind, ist beliebt. Aber ist er auch berechtigt? Wie viel Naturschutz muss sein? Und wozu?

Große Fragen für Michael Gödde. Er leitet das Naturschutzreferat bei der Senatsverwaltung für Umwelt. Aus seiner Jugend kenne er den Stempel, einer der Bösen zu sein, ein Verhinderer, sagt er. Einer, der den Bauern den Mais schlechtredet und die Chemie, die Pflanzen wachsen lässt und Lebensmittel billiger macht. Dabei habe der Naturschutz in Deutschland doch schon mit Preußischen Gesetzen angefangen. Und schon 1899 war der Bund für Vogelschutz gegründet worden, von der Industriellengattin Lina Hähnle. Zu den Mitgliedern ihres Bundes zählte mit Woodrow Wilson sogar ein US-Präsident.

Seltene Tiere vor Baubeginn suchen

Auf solche Prominenz kann Michael Gödde nicht zurückgreifen. Dafür hat er das Recht auf seiner Seite. So ließ im Streit um Lenins Bergung der Bund für Umwelt und Naturschutz durchblicken, dass er im Fall eines Eidechsenfrevels vor Gericht ziehen würde. Das nimmt für den Frevler meist ein teures Ende: Der Europäische Gerichtshof entscheidet so strikt pro Natur, dass selbst Berlins oberster Naturschützer staunt. Insofern hat sich auch das Bezirksamt Pankow wohl im letzten Moment viel Ärger erspart, als es im Schlosspark Schönhausen – nach Rügen vom Naturschutzbund Nabu – die Sägen sinken ließ, damit mit den morschen Eichen auch die seltenen Käfer bleiben konnten. Heldböcke und Eremiten. Fingerlange Brummer, die nur in hinfälligen Einzelbäumen leben und höchstens Kurzstrecke fliegen. Eiche weg, Heldbock weg, so einfach ist das.

Bei Lenin ist die Sache ohnehin einfacher, sofern der Winter nicht noch im April zurückkehrt und die Eidechsen nach ihrem Frühlingserwachen wie geplant vergrämt werden können. Schwieriger könnte es werden, wenn eine Turnhalle oder Wohnungen gebaut werden sollen, die Sache also eilt. Theoretisch dürfte dabei kein Konflikt entstehen, da seriöse Planer die Naturschützer rechtzeitig einbeziehen.

Einer, der das weiß, sitzt in den Bürowürfeln am Nordbahnhof. Stephan Ramin, Umweltschutzbeauftragter der Bahn-Tochter DB Projektbau, sucht mit seinen Kollegen seltenes Getier stets vor Baubeginn. Denn bei Überraschungsfunden droht Baustopp; rechtskräftige Genehmigung hin oder her. „Wir stehen mit dem Artenschutz vor einem sehr ernsten Problem“, sagt Ramin und meint das gar nicht negativ. Ein Problem hatten seine Kollegen etwa, als in Schöneweide im vergangenen Sommer neben den alten Gleisen im Bereich der neu zu bauenden Trasse statt geschätzter 200 Zauneidechsen plötzlich 1300 eingesammelt wurden. In ein dafür vorgesehenes Biotop nach Spandau konnten nicht alle umziehen, weil die Überpopulation es ruiniert hätte. Also wurden einige Eidechsen auf die Wiesen nebenan verdrängt, auf denen sie vorerst bleiben können.

Muss man Käfer um jeden Preis retten?

Beim Ausbau der Strecke nach Cottbus seien in Absprache mit den Brandenburger Naturschutzbehörden zwei extrem seltene Pflanzenarten in der Baustelle umzäunt und Samen anderswo ausgesät worden. Bei der Sanierung der S7 im Grunewald waren es wiederum Zauneidechsen. Ramin nennt sie „das Haustier der Bahn“: Im Gleisschotter finden sie Wechsel aus Sonne und trockenem Schatten und werden von Menschen nicht gestört. Es gibt nicht viele solcher Orte – auch deshalb der strenge Schutz. Und wie fast jedes andere Tier sind auch Eidechsen Teil einer Nahrungskette. Die kann reißen, wenn ein Glied fehlt. Im Fall der Eidechsen können es Schlingnattern sein, die sie fressen. Von denen wiederum ernähren sich Greifvögel.

Anderes Getier muss schonend aus Widerlagern alter Brücken vertrieben werden oder aus Ruinen wie dem Bahnhofsgebäude von Dahlewitz. Als das 2014 abgerissen wurde, hat die Bahn als Ersatz einen Bunker für die dort heimischen Fledermäuse eingerichtet. Ramin zeigt ein Foto von einer Tür mit Schlitz und sagt: „Besser kann’s doch nicht gehen, oder?“ Er hat auch Bilder von der neuen Ostanbindung des BER, unter der der Plumpengraben – ein Fließ am südlichen Stadtrand – nicht nur in einer Rinne fließt, sondern auch einen parallelen Laufsteg im Rohr hat, weil Otter in das dunkle Loch nicht schwimmen würden, sondern nur zu Fuß gehen.

Während die Bahn tut, was von ihr verlangt wird, mag der Stadtmensch skeptisch bleiben. Zurück also zu Michael Gödde ins Verwaltungsgebäude an der Jannowitzbrücke. Wozu der ganze Stress, um die Zauneidechsen zu schützen? Müssen wir die Käfer im Schlosspark Schönhausen um jeden Preis retten? Und sind 170 Feldlerchenpaare auf dem Tempelhofer Feld nicht belanglos gegenüber den Abertausenden in der märkischen Weite? „Nicht jeder kann nach Brandenburg fahren“, sagt Gödde. Aber Naturerfahrung tue jedem gut, „wir sind nun mal keine Roboter“. Außerdem: Wer sich mit Verweis auf andere freikauft oder drückt, komme moralisch schnell in die Bredouille. Am Tempelhofer Feld gebe es ja auch Wiesenpieper und Neuntöter. Und in der ganzen Stadt die größte Mauersegler-Population weltweit: Mehr als 20.000 Exemplare! Also haben für die schon mal wir die Verantwortung. Ebenso für die Spatzen, die es gern ein bisschen verrumpelt haben, damit sie Unkrautsamen und Krümel finden. Oder Nachtigallen, die gern in üppigen Hecken wohnen. „In meiner Jugend waren Agrarlandschaften ein einziger großer Kiebitzschwarm“, sagt Gödde. „Die haben wir gar nicht beachtet. Jetzt sind sie bedroht.“

Tiere importieren

Gödde spricht statt von „Artenschutz“ lieber von „biologischer Vielfalt“. Der Unterschied wird klar, wenn er von den Verschiedenheiten der Biber an Elbe und Oder erzählt. So sei es auch mit den Großtrappen im Havelland: Die nächste große Population gäbe es in der Puszta; man könnte Tiere importieren. Aber der weltweite Genpool würde kleiner. Auch Stephan Ramin, der Bahner, sagt, dass Naturschutz teuer sei. Aber im Verhältnis zur Größe der jeweiligen Bauprojekte doch nur ein kleiner Posten. Und, jenseits von Euros und Gesetzen: Er hinterlässt das unbezahlbare gute Gefühl, das Nötige getan zu haben, um der Nachwelt möglichst viel Natur zu erhalten. Zu allem anderen hätten wir gar kein Recht, sagt Ramin.

Michael Gödde bezeichnet die Bewahrung biologischer Vielfalt als eines der größten Menschheitsthemen – und erdet die großen Worte mit einem profanen Beispiel: Als in den 1860ern aus Amerika die Reblaus in Europa eingeschleppt wurde, war der Weinbau hier vorbei. Er kam erst wieder in Gang, als europäische Reben auf – resistente! – amerikanische Weinstock-Unterlagen gepfropft werden konnten. Der große Genpool scheinbar identischer Arten war die Rettung. „Sonst könnten wir heute nur Bier trinken.“

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