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Berlin: Klaus Wigro (Geb. 1936)

Er passte nicht ins Raster. Und wurde für verrückt erklärt.

Von David Ensikat

Wie er sich gefreut hat, als er seine Tochter kennen lernte, Claudia. „Du bist eine liebe“, sagte er und: „Du siehst aus wie meine Mutter.“ Das war im April 2010.

Claudia wollte wissen, wie es ihm ergangen ist in all den Jahren. Wie er in das Heim kam. Warum sie ihn nicht früher kennen lernen durfte. Er gab ihr keine Antwort. Hatte er all das vergessen? Wollte er nicht darüber sprechen?

Er spielte ihr auf seiner Blockflöte einen Walzer von Johann Strauss vor. Warum soll man über das triste Leben reden, wenn es so fröhliche Musik gibt?

Was Claudia wusste: Ihr Vater war einmal Berufsmusiker. Kurz vor ihrer Geburt, 1959, zog er von Eberswalde nach Reichenbach im Vogtland, weil er dort eine Anstellung bekommen hatte. Flötist im Kreiskulturorchester. 1961 ließen sich die Eltern scheiden. Das vaterlose Leben war für Claudia normal; sie hatte es nicht anders kennen gelernt.

Im Jahr 2006 bekam sie einen Anruf: „Heißt ihr Vater Klaus Wigro?“ – „Ja“ – „Dann bin ich ihr Großonkel.“ Es war ein Mann aus Hameln, der Ahnenforschung betrieb. So erfuhr Claudia, dass es ihren Vater noch gab. Und sie erfuhr, wo er lebte: im Vogtland, in einem Heim für psychisch Kranke. Die Entscheidung, dorthin zu fahren und ihn kennen zu lernen, fiel ihr nicht leicht. Sie brauchte lange. Und traf nun, im April auf diesen Mann, der sich zwar freute über sie, und der ihr gerne auf der Flöte vorspielte, der aber sonst kaum etwas sagte. Die Betreuer im Heim wussten, welche Medikamente sie ihm zu geben hatten, es waren viele. Über sein Leben wussten sie nichts.

Claudia fand Spuren dieses Lebens in den Akten. Bei der Gemeindeverwaltung fanden sich welche und beim Krankenhaus, das Klaus Wigros letzte Station vorm Heim gewesen war. Die meisten Akten stammen aus den Jahren ’77 bis ’81. Sie beschreiben die Entmündigung eines Menschen, sein Bemühen um ein eigenes Leben und das Bemühen der Staatsmacht, diesen Menschen in ein Raster zu zwängen, in das er nicht passt.

Einem Lebenslauf sind die Stationen seiner Künstlerlaufbahn zu entnehmen: Musikstudium in Leipzig und Zittau, Engagements bei Orchestern in Eberswalde, Reichenbach, Annaberg und Aue, zuletzt als „Soloflötist mit Piccoloflöte“. 1976 kündigte er seine Stelle beim Staatlichen Orchester Aue. Er muss psychische Probleme gehabt haben; 1974 war er für kurze Zeit auf der psychiatrischen Station des Krankenhauses Rodewisch.

In den Monaten nach der Kündigung arbeitete Klaus Wigro in der Garderobe des Kreiskulturhauses und in einem Volkseigenen Betrieb als Metallwäscher. Aber er wollte wieder musizieren, bewarb sich bei Orchestern und wollte als „Alleinunterhalter“ auftreten. Es gelang ihm nicht. Denn er führte ein unstetes Leben, und das war im Sozialismus nicht vorgesehen. Ein Mann seines Alters sollte seinen Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Und wenn er mal Flötist war und nun Metallwäscher, dann sollte es so sein. Die weitere Suche war nicht vorgesehen.

§ 249 (1) Strafgesetzbuch der DDR: Wer das gesellschaftliche Zusammenleben ( … ) dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, ( … ) wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht erkannt werden.

Klaus Wigro erhielt die Auflage, einer geregelten Arbeit nachzukommen, etwa beim VEB Hutstoffwerke Reichenbach. Das tat er nicht. Er war doch Flötist. Am 11. 10. 1979 um 14 Uhr wollte er im Stadtpark Reichenbach „Heitere Melodien aus Oper und Operette“ vorspielen. Er verteilte handgeschriebene Zettel mit der Ankündigung. Der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei erstattete Meldung, der Rat der Stadt erstattete Anzeige.

In der „Mitteilung über Beendigung einer Haftstrafe“ vom 28. 3. 1980 heißt es: „Es ist festzustellen, dass W. nicht immer die Realitäten mit seinen Wunschvorstellungen in Übereinstimmung bringen kann. So ist er auch jetzt der Meinung, daß er nach seiner Haftentlassung wieder als Musiker arbeiten kann. Dieser Wunsch wird nicht unterstützt.“

Ein Jahr darauf stellte die Volkspolizei fest: „Trotz drei Vorstrafen hat der Beschuldigte noch immer nicht den richtigen Weg gefunden, um sich gesellschaftsgemäß zu verhalten.“ Und schloss ihn ein viertes Mal weg. Was tut man mit so einem Unbelehrbaren? Man überweist ihn in ein Krankenhaus „zum Zwecke der Begutachtung“. Der Chefarzt der psychiatrischen Männerabteilung bescheinigte W. einen guten körperlichen Zustand, jedoch auch „eine Senkung des allgemeinen seelischen Energieviveaus“. Und wies eine „intensive Behandlung mit Psychopharmaka“ an.

Nach einem halben Jahr wurde Klaus Wigro nach Hause entlassen, wollte sich das Leben nehmen, kam wieder ins Krankenhaus, Befund: „Initiativarmut und Interessenverarmung“ – und wurde zum Invalidenrentner erklärt. „Von sich aus äußerte er den Wunsch nach einer Heimaufnahme … Medikamentöse Dauereinstellung: 3 x 2 Frenolon à 5 mg, 3 x 1 Parkopan à 5 mg und abends 2 Sinophrenin. Mit kollegialer Hochachtung“

Claudia fragte ihren Vater, ob das alles so gewesen sei, und er sagte: „Ja, das stimmt.“ Mehr nicht.

Sie fragte ihn, ob er in ein Heim in Berlin umziehen wolle, dort könne sie ihn öfter besuchen. „Ja, ich will!“, sagte er sofort. Kurz vor der Verlegung brach er zusammen.

Im Berliner Pflegeheim lag Klaus Wigro acht Wochen. Am 12. Oktober 2010 ist er gestorben. Seine Flöte haben sie neben ihn in den Sarg gelegt.

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