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Berlin: Klaus Liebmann (Geb. 1933)

Nie soll man vergessen, woher man kommt

Vielleicht langweilten sie sich eines Tages. Vielleicht hatten sie sich sattgesehen an den Ufern der Flüsse, auf denen sie in ihren Faltbooten Kilometer um Kilometer zurückgelegt hatten. Vielleicht nahm jemand einfach sein Paddel und spielte damit einem anderen Kanufahrer einen Ball zu, der ihn wiederum mit einer geschickten Drehung seinem Hintermann entgegenschleuderte. Genau kann niemand sagen, wie Kanupolo entstanden ist. Einige Theorien kursieren, jede könnte zutreffen. Sicher aber ist, dass auch Klaus Liebmann den Sport in Deutschland populär gemacht hat.

Zuvor wanderte er, zunächst mit seiner Frau, dann zu viert, zusammen mit den Söhnen. Sie fuhren im Kajak die Rhône entlang oder auf den Flüssen Schwedens, schlugen am Abend das Zelt auf, suchten trockene Zweige und entfachten ein Feuer, aßen Suppe aus Dosen und konnten sich nichts Schöneres vorstellen. Vielleicht sah Klaus Liebmann dann seine Söhne an, schon ein wenig müde und doch noch aufgekratzt vom Tag, dachte an seine eigene Kinderzeit, in der Reisen bedeutete, aus Berlin zu fliehen, um den Bomben zu entgehen, den Vater zu sehen, wie er in Uniform das Haus verließ und nie wieder zurückkehrte.

Hunger hatte er, das sollte er nie vergessen und Geld musste er verdienen, um die Mutter und die Geschwister über die Runden zu bringen. Nach der Schule zog er los mit einem Handwagen, voll beladen mit Kohlen, die er für zwei Mark pro Zentner und manchmal auch ein Stück Brot in die Keller der Leute brachte. An guten Tagen schaffte er neun Zentner, dann aber schaffte er seine Hausaufgaben nicht mehr. Herr Grimm, sein Lehrer, ließ so etwas nie durchgehen, nur diesen Schüler bestrafte er nicht, denn dieser Schüler hatte am Nachmittag zuvor mit den Kohlen auch vor seiner Tür gestanden.

Schulbildung war zweitrangig, einen Beruf wählte man nicht, man nahm, was sich bot. Um die Ecke lag ein Schneidergeschäft, der Inhaber suchte einen Lehrling, also lernte Klaus nähen, obwohl er so viel lieber Holz als die immer aus den Händen gleitenden Stoffe bearbeitet hätte. Doch die Stiche wurden gleichmäßiger, die Säume zipfelten nicht mehr, die Knöpfe saßen fest. Seinen ersten Anzug nähte er sich selbst, seiner Frau Röcke und Blusen. Er fand eine Stellung bei Horst Mandel, der erlesene Kollektionen für Ku’damm-Damen schuf, er wurde Atelierleiter, unterwies die Näherinnen und Büglerinnen und achtete darauf, dass die Qualität der Kleider erstklassig blieb.

Aber bodenständig blieb er dennoch. Kameradschaft war ein wichtiges Wort. Er nahm die Schwächeren in Schutz, weil er selbst zu ihnen gehört hatte, weil ihm nichts zugeflogen war, nicht im Beruf, nicht im Sport. Immer gab es Bessere, auch wenn er den deutschen Meistertitel im Kanupolo holte, auch wenn er den Marathon lief oder Ski fuhr. Niemand hätte diesem zurückhaltenden, jungen Mann in den fünfziger Jahren zugetraut, dass er eines Tages erster Vorsitzender des Kanuvereins und Hauptschiedsrichter des Deutschen Kanuverbandes werden würde. Manchmal flocht er in offizielle Reden Erzählungen aus freudloseren Zeiten ein: Nie soll man vergessen, woher man kommt.

Akribisch hatte er sein Leben in schweren Leitz-Ordnern festgehalten, jede Kleinigkeit notiert, jedes Foto, jeden Zeitungsausschnitt eingeklebt. Vielleicht wären noch viele Seiten hinzugekommen. Doch eines Morgens stand er auf und fiel um. Ein schneller Tod. Zu schnell für seine Familie, seine Freunde, zu unversehens. Aber sie haben die Leitz-Ordner, sie werden lesen können, Blatt um Blatt, und sich erinnern. Tatjana Wulfert

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