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Berlin: Klaus Brandstetter (Geb. 1970)

„Keine Sorge, ich hab’ schon Schlimmeres erlebt“

Auf dem Land ist der 16. Geburtstag für die meisten Jugendlichen ein wichtigeres Datum als die Volljährigkeit, denn dann können sie endlich ihren Mopedführerschein machen. Der Bauernhof seiner Familie lag etwas ab vom Schuss, und Klaus, mitten in der Pubertät und doch schon ein Lebemann, genoss die neue Freiheit umso mehr. Aber nur wenige Wochen. Auf dem Weg zu einer Freundin kam er ins Schleudern und überschlug sich. Der Vater, Bauer alten Schlags, konnte mit der Situation nicht umgehen, sein querschnittsgelähmter Sohn kam als Stammhalter nicht mehr infrage. Klaus verlor nie ein böses Wort über ihn.

Er war ein optimistischer, heiterer Mensch, und seine Freunde wünschen sich keinen zu traurigen Nachruf.

Die Behinderung brachte ihn raus aus seinem Dorf, erst in die Reha bei Karlsruhe, dann nach Heidelberg in ein Berufsförderungswerk. Dort hielt er sich an die Zivildienstleistenden, weil er fand, dass sich die Behinderten immer nur gegenseitig bedauerten. Er hatte beschlossen, so zu leben wie bisher – so gut es irgend ging. Trotz Rollstuhl trampte er, er unternahm Campingreisen mit Freunden und auf die Idee, dass seine Liebe zu den Frauen vorbei sein könnte, kam er erst gar nicht. Kurz nach dem Mauerfall löste er ein One-Way-Ticket nach Berlin.

Über 20 Jahre wohnte er am Paul-Lincke-Ufer mit seinen Fischen im Aquarium und der Katze Maria in einem schönen Erdgeschoss. Als Klaus nach Kreuzberg kam, gab es dort noch Sozialwohnungen. Sein Aussehen entwickelte sich langsam Richtung Punk, die Haarfarben wechselten häufig. Der sanfte Mann mit den metallenen Totenköpfen auf den Radkappen des Rollstuhls war eine auffällige Erscheinung. Ein unterhaltsamer Kneipen- und Konzertgänger, ein Fußballfan ohne Lieblingsverein mit skurrilem Humor und einer außergewöhnlichen Gabe zuzuhören. Ja, es gab auch Zeiten, in denen Klaus arbeitete, als Disponent bei einem ambulanten Pflegedienst, außerdem war er ausgebildeter Uhrmacher. Aber wichtig war das nicht. Worauf es ihm im Leben ankam, wusste er genau, und für Geselligkeit und Freundschaft brauchte er kein Geld. Er hatte keine Hemmungen auf Fremde zuzugehen, sie auch um Hilfe zu bitten. Wenn er Leute fragte, ob sie ihn mal schnell einen Treppenabsatz hochtragen würden und es dann doch der vierte Stock wurde, konnte ihm keiner böse sein. Nachdem ihm ein paar obdachlose Gäste in seiner Abwesenheit die Wohnung ausräumten, war er dankbar, dass sie wie vereinbart den Schlüssel wieder unter die Fußmatte gelegt hatten.

Sein Credo: „Keine Sorge, ich hab’ schon Schlimmeres erlebt.“ Als ihn seine Freunde das erste und einzige Mal klagen hörten, war er schon über 40. „Warum muss mich das jetzt auch noch treffen?“ Die Aplastische Anämie ist eine lebensbedrohliche Krankheit des Knochenmarks, die mit zwei Fällen auf eine Million so selten ist, dass sie den meisten Ärzten nie begegnet.

Die Freunde wünschen sich keinen zu traurigen Nachruf. Den Moment, als sie sich verliebten, beschreibt eine Freundin so: „Ich wollte ihn erst gar nicht kennenlernen, weil ich Angst vor dem Rollstuhl hatte. Und dann kam der rein, und die Sonne ging auf.“

Im Krankenhaus trifft er den 14-jährigen Fabian. Der hat sich bei einem Fahrradunfall das Rückgrat gebrochen. Klaus verbringt Tage und Nächte mit ihm und gibt ihm die Hoffnung auf ein gutes, selbstbestimmtes Leben, trotz allem.

Klaus besiegt seine Krankheit – und erhält kurz darauf die nächste Diagnose: Blasenkrebs. Seine größte Sorge gilt jetzt seiner Schwester und den Freunden. Hauptsache die verzweifeln nicht. Ein Freund erinnert sich: „Selbst im Krankenhaus, war es schön mit ihm.“ Deutschland wird Fußballweltmeister, und Klaus verbringt einen letzten beschwingten Sommer, trotz allem.

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